"Wien als Knotenpunkt im Herzen Europas" - Wien plus-Interview mit Bürgermeister Michael Ludwig

Bürgermeister Michael Ludwig sieht in der Wahl zum Europaparlament eine wichtige Richtungsentscheidung gegen Rechtspopulismus, für ein soziales und gerechtes Europa.

Bürgermeister Michael Ludwig vor einem Bücherregal

Bürgermeister Michael Ludwig

Wien plus: Vor 30 Jahren fand die Abstimmung zum EU-Beitritt statt. Was waren Ihre Wünsche und Hoffnungen?

Bürgermeister Michael Ludwig: Die Diskussionen waren intensiv - es ging um die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer*innen oder um die österreichische Landwirtschaft. Ich war und bin der Überzeugung, dass Wien die Chance nutzen sollte, im gemeinsamen Europa eine starke Rolle einzunehmen. Und das ist gelungen, wir haben stark profitiert.

Wien plus: Warum ist es wichtig, zur kommenden Europawahl zu gehen?

Ludwig: Es geht darum, demokratische Errungenschaften zu verteidigen. Rechtspopulistische Parteien mobilisieren zu einer Denkzettelwahl. In Wirklichkeit wollen sie die Gesellschaft spalten und die offene, liberale Demokratie zerstören. Alle, denen ein demokratisches und soziales Europa ein Anliegen ist, sollten zur Wahl gehen.

Wien plus: Wie würden Sie einem Volksschulkind erklären, warum die EU für uns wichtig und gut ist?

Ludwig: Vor allem für uns als kleines Land gilt: Gemeinsam sind wir stärker als allein. Der Klimaschutz ist vielen jungen Menschen ein großes Anliegen - und ein gutes Beispiel dafür, warum es gemeinsame Pläne und Ziele braucht. Kein Land allein ist den Herausforderungen so gut gewachsen, wie es das als Teil der Europäischen Union sein kann.

Wien plus: Wenn Sie heute mit Wiener*innen sprechen: Wie schätzen Sie die Stimmungslage zur EU ein?

Ludwig: Die Mehrheit ist der Überzeugung, dass es wichtig ist, Teil der EU zu sein. Trotzdem gibt es Kritik. Vor allem merke ich aber, dass es relativ wenig Information gibt. Darum nutze ich jede Möglichkeit, über die EU zu sprechen. Ich erlebe immer wieder die Wahrnehmung, positive Entwicklungen würden von der Politik im Land kommen, negative aus der EU - ohne dabei zu sehen, dass in den Entscheidungsgremien der EU auch die nationalen Regierungen vertreten sind. Es gibt viele Bereiche, in denen wir das gemeinsame Europa noch stärker definieren müssen: Außen- und Sicherheitspolitik, Integration, Entwicklung der Industrie, Maßnahmen gegen den Klimawandel - da gibt es große Herausforderungen, die nicht auf nationaler Ebene zu klären sind. Wir leben an einer Zeitenwende. Durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sind wir außerdem gezwungen, über eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa nachzudenken.

Wien plus: Was würden Sie an der EU sofort ändern?

Ludwig: Dass Entscheidungen schneller getroffen werden. Die Österreichische Bundesregierung ist an den Hemmnissen aber nicht immer ganz unbeteiligt - ich denke zum Beispiel an das Schengen-Veto gegenüber Bulgarien und Rumänien. Das halte ich für einen schweren Fehler. Die Hälfte der 24-Stunden-Kräfte kommt aus Rumänien. Und anstatt die Frauen zu unterstützen, setzt man auf Barrieren. Da spielt die Innenpolitik eine stärkere Rolle als der Europagedanke. Es geht letztlich nur darum, gegenüber Menschen aus anderen Ländern Härte zu zeigen. Am Ende trifft uns das aber selber, weil wir die Hilfe der Menschen aus Bulgarien dringend brauchen.

Wien plus: In welchen Bereichen prägt Wien die EU ganz besonders?

Ludwig: Das Wiener Modell des sozialen und leistbaren Wohnens ist europaweit anerkannt. Eben weil unser Rat so geschätzt wird, hat Wien ein Netzwerk für leistbares Wohnen aufgebaut. Wir setzen uns dafür ein, dass dieses Thema größte Bedeutung bekommt und gemeinschaftlich vorangetrieben wird.

Wien plus: Was bringt die EU für Wien?

Ludwig: Die EU hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass sich Wien zu der weltoffenen Metropole entwickelt hat, die es heute ist. Von der einstigen Randlage am Eisernen Vorhang während des Kalten Krieges wurde Wien wieder zum Begegnungsort und Knotenpunkt im Herzen Europas.

Wien plus: Wo spürt Wien die EU deutlich?

Ludwig: Im Stadtbild sind die Auswirkungen sichtbar. Zwischen 1996 und 2021 wurden 260 EU-Projekte in Wien umgesetzt. Die Neugestaltungen von Neulerchenfelder und Ottakringer Straße, Yppen-, Wallenstein- und Ilgplatz sind nur einige Beispiele dafür. Derzeit entsteht das Eric Kandel Institut, ein Zentrum für Präzisionsmedizin. Die Kosten in der Höhe von rund 90 Millionen Euro werden zu einem Gutteil aus EU-Mitteln finanziert.

Wien plus: Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Städten und der EU?

Ludwig: Das Wien-Haus in Brüssel vernetzt seit 1996 die Stadt Wien, ihre Organisationen und Unternehmen mit europäischen Institutionen. Gemeinsam mit anderen Metropolen setzt sich Wien für ein sozialeres, gerechteres Europa ein. Ich stehe seit vielen Jahren im Austausch mit europäischen Partner*innen und den Bürgermeister*innen großer europäischer Kommunen. Ich bin überzeugt, dass den Städten auf europäischer Ebene eine wichtige Stimme gehören muss. Rund 300 Millionen Europäer*innen leben im urbanen Raum. Das bedeutet eine enorme Verantwortung und ist Auftrag, mit unserem Wissen und Können mitzugestalten. Ich werde nie müde - auch in meiner Rolle als Städtebundpräsident -, das zu betonen.

Wien plus: Muss die EU sozialer werden?

Ludwig: Ich stehe voll hinter dieser Forderung. Die EU hat bereits viele Meilensteine bei der Entwicklung in Richtung Sozialunion gesetzt. Dazu zählen die Mindestlohn-Richtlinie, die Europäische Garantie für Kinder und die Entwicklung eines Europäischen Sozialfonds. Sie fördert auch in Wien Projekte für Arbeit, Bildung und Armutsbekämpfung.

Wien plus: Was sind die wichtigsten Zukunftsthemen der EU?

Ludwig: Wir sind mit einer Reihe an Herausforderungen konfrontiert, die nur auf europäischer Ebene umfassend angegangen werden können: von der Digitalisierung über die aktuellen geopolitischen Auseinandersetzungen bis zum Klimaschutz.

Wien plus: Stichwort Klimaschutz: Macht die EU da genug?

Ludwig: Beim Klimaschutz hat sich die Europäische Kommission mit dem Green Deal dem Klimawandel gestellt. Städte sind ein wichtiger Motor, damit die EU 2050 klimaneutral ist. Als Stadt Wien haben wir uns das Ziel gesetzt, bis 2040 CO2-neutral zu werden. Dabei hilft uns eine gut ausgebaute Daseinsvorsorge in Kombination mit innovativen Technologien wie einer der größten Wärmepumpen Europas.

Wien plus: Welche Ziele wurden in den letzten Jahren umgesetzt?

Ludwig: Neue digitale Grundregeln, der Corona-Wiederaufbaufonds, der Schutz der Rechtsstaatlichkeit, die Lohntransparenz-Richtlinie oder EU-Regeln zu menschenwürdigen, transparenten und verlässlichen Arbeitsbedingungen: Davon profitieren alle europäischen Bürger*innen. Die EU war noch nie wichtiger. Der Ukraine-Krieg und davor die Corona-Pandemie haben uns einander nähergebracht, auch wenn wir uns das unter diesen Umständen nicht gewünscht hätten. Dieses Gemeinschaftsgefühl brauchen wir, um die Herausforderungen anzugehen.

Wien plus: Die EU hat 2012 den Friedensnobelpreis bekommen. Welche Rolle spielt sie jetzt in den aktuellen Kriegen?

Ludwig: Die Europäische Union hat uns eine der längsten Friedensperioden unserer Geschichte beschert. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat uns vor Augen geführt, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist. Aber dieses gemeinsame Europa ist nach wie vor die beste Versicherung für den Frieden. Gleichzeitig bringt uns die Solidarität Sicherheit in schwierigen Zeiten. Wien ist eine Stadt der internationalen Diplomatie. Über 40 internationale Organisationen wie etwa die Vereinten Nationen, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa oder die Grundrechteagentur der Europäischen Union haben hier ihren Sitz. Dank der Neutralität ist Wien daher ein natürlicher Standort für Friedensgespräche.

Wien plus: Ist Österreich als EU-Mitglied resilienter gegen Krisen?

Ludwig: Gemeinsam stärker - das gilt auch hier. So war es in der Corona-Pandemie ein großer Vorteil, dass EU-Institutionen den Impfstoff beschafft haben. Es braucht europäische Solidarität angesichts von Herausforderungen, die Nationalstaaten alleine nicht schaffen würden. Immer wieder zeigt sich, wie wichtig solidarisches Handeln nach innen und geschlossenes, selbstbewusstes Auftreten nach außen sind.

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