Mitschrift
Ich bin im Oktober 1937 geboren, also noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Meine Eltern stammten aus dem Arbeiterstand. Mein Vater war Eisengießer, meine Mutter Hausgehilfin. Wir haben eine sehr kleine Wohnung im siebzehnten Bezirk, in Dornbach, bewohnt – eine Substandardwohnung im Souterrain, die aus heutiger Sicht keine Eigenschaften für einen geeigneten Wohnraum mit zwei Kindern gehabt hat.
Der Vater ist 1939, also sofort nach Ausbruch des Krieges, eingezogen worden, und ist erst nach seiner Gefangenschaft, 1945, wieder zurückgekommen. Manchmal hat er Urlaub gehabt, da habe ich ihn gesehen. Ich musste ihn aber erst nach seiner Rückkehr aus Krieg und Gefangenschaft wirklich kennen lernen. Die Kriegsjahre hat diese kleine Familie also ohne Vater verbracht.
Ich bin mitten im zweiten Weltkrieg in die Volksschule gekommen. Nach den vier Jahren hat sich folgendes abgespielt. In meiner Familie hat niemand dran gedacht, dass der Bub das Gymnasium besucht. Eines Tages hat mein Klassenlehrer meinen Vater gerufen und ihm nahe gelegt, alles zu versuchen, mich in das Gymnasium zu schicken. Das hat für meine Eltern viel Nachdenkarbeit beinhaltet. Die Einkommenssituation hat das nicht wirklich erlaubt. Außerdem gab es damals noch Schulgeld zu bezahlen, da habe ich eine Ermäßigung bekommen. Ich habe das Gymnasium in der Geblergasse im Siebzehnten Bezirk besucht und bin dort bis zur Matura 1955 gewesen.
BRAUNGASSE 22
Wir haben in einem Haus in Dornbach in der Braungasse 22 gewohnt. Die Herrschaft in diesem Haus war sehr eng verbunden mit der Maschinenfabrik Rast & Gasser. Dort war eine breite Verwandtschaft dieser Familie wohnhaft. Sie haben in einem Garten auf einem Vis-a-vis-Grundstück einen Luftschutzkeller gebaut. Dieser Keller war im Gegensatz zu unserem, der ja nur ein Kohlenkeller war, ein Keller mit dicken Betonwänden. Wir, die „Untermenschenfamilie“, also meine Mutter, meine Schwester und ich, durften auch hinein. Es hieß, die sichersten Plätze lägen an der Hinterseite, die weniger sicheren an der Vorderseite bei der Eingangstüre, die eine dicke Eisentüre war. Also mussten wir bei der Türe sitzen.
Ab 1943 war es eine große Qual für uns mit den Bombenangriffen, wir mussten bei der Vorwarnungssirene in den Keller laufen. Ab und zu sind wir auch in den Wiener Wald gelaufen, das war nicht weit von uns. Wir durften auch nicht in der Schule bleiben, was gut war, weil diese später durch Bomben zerstört wurde.
KOHLENKELLER
Ab und zu haben wir uns auch in den Kohlenkeller zurückgezogen. Eines Morgens, um sechs oder sieben Uhr früh hat jemand die festen Fenster des Kellers eingeschlagen. Ich bin daneben gesessen und habe das breit grinsende Gesicht eines russischen Soldaten erblickt. Unter den Frauen und Kindern war ziemlicher Aufruhr, aber diese Soldaten waren sehr freundlich. Ich erinnere mich, dass mir einer ein Stück Schokolade gab und dabei gelächelt hat. Die Schokolade war weißgelb.
Später, nach der Aufteilung Wiens in die vier Besatzungszonen, ist der siebzehnte Bezirk in die amerikanische Zone gefallen. Wir haben mit den Russen keine Berührung mehr gehabt. Die Amerikaner haben einige Straßen gesperrt, um dort Baseball zu trainieren oder andere, für ein Kind lustige Sachen zu treiben. Später kam ich über die amerikanischen Soldaten zum Basketballspiel. Sie haben in meinem Gymnasium mitgeholfen, den zerstörten Turnsaal zu reparieren. Das war dann die Hochburg des Basketballspiels für uns. Ich hatte also in der ganzen Besatzungszeit ein breites Erlebnisband.
BASKETBALL
Ich habe für österreichische und Wiener Verhältnisse intensiv gespielt, teils in der Schule, teils in einem Club. Diese Entwicklung war für mich sehr positiv. Ich habe 1955 maturiert und bin 1957 als Mitglied der österreichischen Nationalmannschaft zur Europameisterschaft nach Sophia gefahren. Dann bin ich 1960 für die Olympischen Spiele in Rom in die Olympiamannschaft nominiert worden.
Es war ein großartiges Erlebnis. Wir haben uns zwar knapp nicht qualifiziert, aber für die kleinen österreichischen Basketball-Krabbler war das schon was! Wir waren die einzige Mannschaft, die keine einheitliche Bekleidung hatte, also keine eleganten Blazer mit Olympiaemblem. Wir sind halt mit unseren Klamotten dort aufmarschiert, haben aber gar nicht so schlecht gespielt. Wir haben uns zwar nicht qualifiziert, aber wir mussten uns nicht verstecken mit unserer Leistung.
GESCHICHTSUNTERRICHT
Es wird immer wieder gefragt, wie in diesen Jahren unmittelbar nach dem Krieg der Geschichtsunterricht war. Diese Zeit war ja der erste Anlauf in Österreich, sich mit den politischen Verhältnissen in den Zwanziger- und Dreißigerjahren zu beschäftigen. In diesen Jahren ist in unserem Land die Demokratie abgeschafft worden. Es wurden die Sozialdemokratische Partei und ihre Zeitungen verboten, das Parlament außer Kraft gesetzt.
BÜRGERKRIEG
Im Februar 1934 kam es zum Bürgerkrieg zwischen dem Republikanischen Schutzbund der Sozialdemokratischen Partei auf der einen Seite und den Christlich-Sozialen mit der Heimwehrformation, dem Bundesheer und der Polizei auf der anderen Seite. Dieser Bürgerkrieg ging für die Sozialdemokraten verloren. Es wurden mehrere Menschen standrechtlich hingerichtet, und die Republik ist in ihren Grundfesten erschüttert worden.
Viele Menschen waren sehr verzweifelt und haben sich den Nationalsozialisten angeschlossen, andere haben sich der Kommunistischen Partei angeschlossen. Das Land war politisch-moralisch erschüttert. Die Grundfesten waren deshalb so schwach, weil man nach dem ersten Weltkrieg nicht wirklich zu einem in sich geschlossenen Verständnis eines in sich gemeinsamen Staates gekommen ist. So war Österreich im März 1938 eine leichte Beute für Hitler.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war es also schon ein Thema, wie Österreich seine Vorgeschichte verarbeitet, und wie man in einem neuen Österreich mit diesem Thema umgeht.
KRIEGSENDE
Mir sind das unmittelbare Kriegsende und die Jahre danach in Erinnerung, wie die Erwachsenen mit den Notlagen umgegangen sind. Denn die waren beträchtlich. Zunächst war es wichtig, die Lebensmittelversorgung sicher zu stellen. Es gab Lebensmittelkarten.
Man konnte nicht in ein Geschäft gehen und einkaufen, sondern man bekam Lebensmittelkarten, und damit waren die Mengen rationiert. Es gab Karten für Schwer- und Schwerstarbeiter und für Normalverbraucher. Das war das Bild nach 1945 und einige Jahre danach. Die Bezugsscheine haben sich nicht nur auf Lebensmittel bezogen. Man konnte auch Kleidung nicht mit Geld kaufen. Es bedurfte eines Bezugsscheines.
Ein großer Erinnerungsblock ist der physische Wiederaufbau des zerstörten, zerbombten Wien. Es haben sich viele Frauen gefunden, die beim Wegschaffen der Bombentrümmer geholfen haben. Daraus ist der ehrende Ausdruck „Trümmerfrauen“ entstanden. Das war wichtig und notwendig, weil die Männer, die in der Deutschen Wehrmacht eingerückt waren, nicht sofort zurückgekommen sind. Viele sind gar nicht zurückgekommen, viele waren in Gefangenschaft. Es lastete alles auf den Schultern der Frauen. Nicht nur die Kinderernährung, die Kindererziehung, sondern das Anpacken bei den notwendigen Arbeiten.
INTEGRATION
Die sehr komplexe Frage, was soll mit den Österreichern geschehen, die während des Krieges da waren, die gar nicht eingerückt waren, die aber Nationalsozialisten waren, war eine große Herausforderung für die damalige Politik, die ich als Jugendlicher gar nicht mitbekommen habe. Alles, was ich darüber weiß, habe ich erst in späteren Jahren erfahren.
Eines war klar, es ist auch ein Teil der Beschäftigung mit Österreich, dass man hier mit Augenmaß vorgeht. Es war notwendig, dass man Leute, die der NSDAP angehörten und sich nachweislich politisch kriminell verhalten haben, zur Verantwortung zieht. Auf der anderen Seite war die österreichische Politik auch bemüht, diesen Menschen die Rückkehr, eine gewisse Integration, zu ermöglichen, sie in irgendeiner Weise wieder vernünftig einzusetzen. Ich glaube, es wäre gar kein anderer Weg möglich gewesen.
So gesehen muss man noch auf etwas anderes hinweisen. Die Menschen, die in Konzentrationslagern eingesperrt waren und diese fürchterlichen Verhältnisse überlebt haben, haben sich zusammen getan und einander geschworen, dass so etwas nie wieder geschehen dürfe. Das war eine sehr wesentliche Grundlage zum Wiederaufbau unseres Landes.
DER STAATSVERTRAG VON 1955
Dieser Staatsvertrag hat dazu geführt, dass die Besatzungsmächte aus Österreich abgezogen sind. Das hat auch die Beseitigung der innerösterreichischen Grenzen als Konsequenz gehabt. Wir waren bis zu diesem Zeitpunkt in der Situation, dass wir so genannte Identitätskarten haben mussten, Personalausweise, mit denen man Zonengrenzen überschreiten konnte. Musste man damals zum Beispiel von Wien nach Linz fahren, musste man diese Karte an jeder Zonengrenze vorweisen.
ABGRENZUNG DER SOZIALDEMOKRATEN
Die Enns war so ein berühmter Fluss als Zonengrenze. Nach 1955 sind diese Zonengrenzen weggefallen, die Identitätskarten hatten keine Bedeutung mehr. In dem Maß, in dem die österreichische Wirtschaft wieder aufgebaut und in ihrer Exportorientierung entwickelt wurde, gelang es, die Waren nicht nur in Österreich abzusetzen, nachdem man das Land mit dem Notwendigen wie Stahl, Kohle, Koks und elektrischem Strom versorgt hatte, sondern auch in wichtigen Märkten Fuß zu fassen.
Auch das ist ein wichtiges Stück österreichischer Nachkriegsgeschichte, die sich in der politischen Ausrichtung dadurch ausgezeichnet hat, dass die Sozialdemokraten zu einem sehr frühen Zeitpunkt klar gestellt haben, dass sie sich von den Ideologien der Kommunistischen Parteien Osteuropas abgegrenzt haben. Das war wichtig, weil die Konservativen versucht haben, sie in der Nähe dieser Parteien anzusiedeln. Das hat die SPÖ in der „Eisenstädter Erklärung“ festgestellt, sodass solchen Interpretationen der Boden entzogen wurde.
SIEMENS – NATIONALBANK – POLITIK
Ich habe nach der Matura 1955 begonnen, an der Hochschule für Welthandel zu studieren, habe das 1960 mit dem Diplom abgeschlossen und bin als frisch gebackener Diplomkaufmann über ein Zeitungsinserat zu Siemens-Schuckert gekommen. Ich habe eine sehr interessante Tätigkeit zugeordnet bekommen, die Kontrolle der Kostenrechnung. Das war für einen „Frischg’fangten“ eine verantwortungsvolle Stelle.
Ich war dort aber kaum zwei Jahre, als ich durch Zufall den damaligen Generaldirektor-Stellvertreter der Nationalbank kennen gelernt habe. Der hat mich ein bisschen ausgefragt, und hat mir dann ein Angebot gemacht, zur Nationalbank zu wechseln. Das war für mich nicht selbstverständlich, denn ich hatte an der Universität das Fach „Betriebswirtschaftslehre Industrie“ gewählt und nicht „Banken“.
Er hat mir gesagt, er braucht junge Akademiker, die noch nicht alles vergessen haben, was sie an der Hochschule gelernt haben, und die nicht Mitglieder der ÖVP sind. Das war damals mehrheitlich der Fall. So kam es zu meinem Eintritt in die Nationalbank. Dieser Generaldirektor-Stellvertreter – sein Name war Stefan Wirlandner – hat nicht nur mich, sondern auch eine Handvoll Anderer, wirklich in einer beispielhaften Art und Weise zu mehr Bildung, mehr Professionalität verholfen.
Für mich hieß das zum Beispiel, dass ich im vierten Jahr meiner Zugehörigkeit zur Nationalbank in die USA geschickt wurde, dort viele Monate beim Internationalen Währungsfonds, beim amerikanischen Notenbanksystem, bei Kommerzbanken gearbeitet habe und viel gelernt habe. Ich habe bis dahin ja nicht gewusst, wie eine amerikanische Bank funktioniert.
Das war in gewisser Hinsicht ein erster wichtiger Berührungspunkt mit der Politik, wenn auch nicht mit der österreichischen. Denn eine meiner Aufgaben beim amerikanischen Zentralbanksystem war es, mit dem obersten Chef dieser Organisation immer zu den Kongress-Hearings mitzufahren – das sind öffentliche Veranstaltungen, bei denen der Chef dieses Systems von den Kongressabgeordneten befragt wird. Es wurde ziemlich hart gefragt. Meine Aufgabe war es, immer mitzuschreiben, damit wir für das nächste Hearing schon gerüstet sind und gute Argumente haben. Das war eine unfassbar gute Schule. Als ich später in der österreichischen Politik war und nach Washington kam, habe ich etliche Leute dort bereits gekannt. Das war sehr hilfreich.
Zurück nach Wien. Ich habe dann eine sehr ähnliche Aufgabe bei der „Bank of London“ bekommen, und eine auch verwandte Aufgabe in den Niederlanden. Das war interessant, weil dort ein Zentralplanbüro ist. In diesem Büro habe ich Arbeiten gemacht bezüglich Sozialpartnerschaft. Die Sozialpartnerschaft ist damals auch in Österreich gerade gewachsen. So bin ich in vielerlei Hinsicht nicht nur in das Notenbanksystem, sondern auch in die Politik gekommen. Man kann das Notenbanksystem ohnehin besser verstehen, wenn man die politischen Zusammenhänge überblickt.
SOZIALDEMOKRATISCHE BETRIEBSFRAKTION
Es hat sich dann in der Nationalbank eine sozialdemokratische Betriebsfraktion gebildet, die am Anfang sehr klein war und im Verborgenen blühen musste, denn es war nicht gerade ein Karrierepush, der Sozialdemokratischen Fraktion anzugehören. Wir haben das also schrittweise entwickelt. Das hat sich so abgespielt, dass wir von der Bau- und Holzarbeitergewerkschaft einen Raum zur Verfügung gestellt bekommen haben. Da haben wir politische Schritte überlegt, aber auch eine Betriebszeitung gegründet. Wir sind zu fünft, zu sechst gestanden an den Abziehmaschinen und haben die Matrizen da durchgeschleppt, waren unglaublich schmutzig von den Farben. Um sieben Uhr früh sind wir mit unserer Zeitung schon in der Bank gewesen, und haben sie diskret auf die Schreibtische der Mitarbeiter und Kollegen gelegt.
Das war in der Zeit der ÖVP-Alleinregierung. Als dann 1970 die ÖVP-Regierung vom ersten Kabinett Bruno Kreisky abgelöst wurde, hat einmal der damalige Finanzminister Androsch die Nationalbank besucht. Wir kannten einander vom Studium, wir haben ungefähr zur gleichen Zeit unser Doktorat gemacht. Er hat mich gesehen und gefragt, was ich hier mache. Am nächsten Tag hat mich der Generaldirektor der Nationalbank gefragt, ob ich als Berater in das Finanzministerium übersiedeln möchte.
BANKEN
Ich habe geantwortet, dass ich das für eine gewisse Zeit machen kann. Der Vizepräsident der Nationalbank, Andreas Korb, hat mir dringend abgeraten. Er hat gesagt, Kabinett Kreisky sei eine Minderheitsregierung, die sich nicht lange halten würde. Er hat versprochen, mir den Platz freizuhalten, dass ich wieder zurückkommen könnte.
Er hat recht gehabt. Die Minderheitsregierung hat sich nicht lange gehalten. Sie ist 1971 eine Mehrheitsregierung geworden. Und ich blieb statt sechs Monate fünfeinhalb Jahre im Finanzministerium. Das hat immer in der unmittelbaren Nähe des Ministers, des Parlaments, der Sozialpartner, des Industriellenvereinigung stattgefunden. Ich war nach dieser Zeit mitten drin. Damals hat es sich zugetragen, dass in der Kreditanstalt ein Posten zu besetzen war. Ich war jahrelang im Aufsichtsrat der CA, habe den amerikanischen und den finanzpolitischen Background gehabt, man hat mich genommen. Ich wurde Generaldirektor-Stellvertreter in der Creditanstalt.
Etliche Jahre danach kam es in der Österreichischen Länderbank zu einer dramatischen Entwicklung, als einige Kreditnehmer der Bank große Schwierigkeiten hatten und in Konkurs gingen. Die Länderbank stand auf einmal da mit den großen Krediten dieser Unternehmen, die diese nicht mehr zurückzahlen konnten. Das heißt, es war wieder Feuer auf dem Dach. Man hat mich gerufen, und ich wurde Vorstandsvorsitzender, der nun mit all diesen Abwicklungen zu tun hatte wie Klimatechnik, Eumig und so weiter. Ich habe diese große, leider negative österreichische Industriegeschichte miterlebt und musste mit ihr fertig werden.
1984
Damals war Fred Sinowatz Bundeskanzler. Es hat eine Regierungsumbildung gegeben, und Sinowatz hat mich gefragt, ob ich als Finanzminister zur Verfügung stehen würde. Er hat mich angerufen, als ich bei einer großen Tagung in Alpbach in Tirol war.
Ich hatte gerade in der Länderbank alle Hände voll zu tun, um wieder ein offensives Institut aus ihr zu machen. Obwohl ich das Angebot großartig fand, wollte ich nicht wie „die Dirn vom Tanz“ davon laufen. Ich wollte es mir überlegen und mit meinen Aufsichtsräten drüber sprechen. Wir vereinbarten, am nächsten Tag noch einmal drüber zu sprechen.
Ich habe es in Alpbach nicht mehr ausgehalten und bin sofort nach Wien gefahren. Auf der Heimfahrt, es war achtzehn oder neunzehn Uhr am Abend, als ich im Salzkammergut im Gasthaus Zwischenstation machte, kam ein Zeitungsverkäufer herein. Die Schlagzeile war: „Vranitzky neuer Finanzminister!“ So kann es auch gehen. Da hatte ich nicht mehr viel zu überlegen. Ich bin in das Finanzministerium übersiedelt, wo ungeheuer viel Arbeit auf mich gewartet hat.
1986
Dieses Jahr war eines der ereignisreichsten Jahre für die österreichische Innenpolitik. Bundeskanzler Sinowatz hatte noch mit den Nachwehen des nicht zustande gekommenen Kraftwerkes Hainburg, und einer der größten Stahlkrisen, die zu einer der größten Krisen der Österreichischen Verstaatlichten wurde, zu kämpfen. Als Vorsitzender der SPÖ war er auch damit konfrontiert, dass bei der Bundespräsidentenwahl zum ersten Mal kein Sozialdemokrat, sondern Kurt Waldheim den Sieg davon trug.
Das war viel für Sinowatz. Er hat argumentiert, dass er im Wahlkampf so stark gegen Waldheim Position bezogen hätte, dass er sich nicht vorstellen könne, unter einem Bundespräsidenten Waldheim Bundeskanzler zu bleiben. Er hat mich zu sich geholt und eingeladen, sein Nachfolger zu werden.
Das ist nicht so schnell gegangen, wir haben schon viel Nachdenkarbeit leisten müssen, und auch viel Überzeugungsarbeit, denn ich war nicht logischerweise ein Kandidat für die Nachfolge. Außerdem hatte ich mich ja vorher keiner Wahl gestellt.
Ich wurde im September 1986 Bundeskanzler, ohne vorher eine Wahl geschlagen zu haben. Dann kam noch etwas dazwischen. Ich war der Bundeskanzler der kleinen Koalition. Sie war nicht von mir gebildet. Ich hatte das übernommen von Sinowatz, beziehungsweise Kreisky. Kleine Koalition hieß also SPÖ-FPÖ. Es gab also eine Reihe von Anlässen, die mich nachdenklich machten über den Bestand der Koalition. Diese Anlässe haben nicht die Ministerkollegen Steger, Ofner, Frischenschlager geliefert. Sie waren um sehr gute Zusammenarbeit in der Regierung bemüht.
Der Anlass für meine Nachdenklichkeit war die Art und Weise, wie Jörg Haider im September 1986 bei einem Parteitag der Freiheitlichen Partei in Innsbruck Parteiobmann wurde. Ohne mich jetzt auf Einzelheiten einzulassen, dieser putschartig ausgetragene Parteitag und die Nebenklänge, das Laute, die Misstöne und alles, was damit zusammenhing, und meine Einschätzung Haiders bezüglich seiner Handschlagqualität, die ich aus Erfahrung sehr gering einschätzte. Auch meine Einschätzung, was Haiders Schwierigkeiten, sich von der NSDAP abzugrenzen, anlangte, hat mich dann bewogen, die Koalition von einem Tag auf den nächsten zu kündigen.
Das war ein großer Schritt. Man bedenke, dass kein geringerer als Bruno Kreisky diese Koalition geschmiedet hatte. Bedenken muss man auch, dass die Aufkündigung eine vorverlegte Nationalratswahl nach sich zog. Das heißt, ich wurde im Juni Bundeskanzler, habe im September die Koalition aufgekündigt, und musste am 23. November eine Nationalratswahl schlagen als relativer Newcomer, das war zweifellos ein großes Risiko.
Die Solidarität und die Loyalität der Sozialdemokraten mit mir war eine unvorstellbar innige und solide. Wir haben mit dem Mut des Gewinnenwollens eine sehr kurze, intensive Nationalratswahlschlacht geschlagen und sind entgegen so mancher Unterstützung der Boulevardzeitungen für die ÖVP aus dieser Wahl als Nummer Eins hervorgegangen.
Das war der Startschuss dafür, ein neues Kapitel in der österreichischen Innenpolitik aufzuschlagen. Ich habe dann mit der Österreichischen Volkspartei ein Koalitionsabkommen abgeschlossen und ein ziemlich ehrgeiziges Programm entwickelt, sowohl wirtschaftspolitisch, als auch steuerpolitisch. Mit dem Finanzminister Lacina haben wir die Steuerreform der Nachkriegszeit geschaffen, die zusätzlich zu der 1970 in den 1980-er und 90-er Jahren den Namen einer echten Steuerreform verdient hat. Wir haben uns auf den Beitritt zur Europäischen Integration vorbereitet. Wir haben, das war mein besonderes Anliegen, für Kunst und Kultur die Türen geöffnet. Und es war nicht aufgrund des Diktats sondern der Sympathie des Bundeskanzlers Vranitzky für Kunst, Kultur, dass dieses neu aufgeschlagene Kapitel herzeigbar war.
BRUNO KREISKY
Er hat als österreichischer Außenpolitiker für jeden seiner Nachfolger ziemlich große Fußstapfen hinterlassen. Er war es, der sich nicht nur um Vermittlung bemüht hat, um den Stellenwert Österreichs als einen Ort internationaler Begegnung. Wenn Österreich schon seit langem dritter Sitzstaat der Vereinten Nationen ist, wissen wir, wie wichtig für Bruno Kreisky die Außenpolitik war. Und wie wichtig es für unser Land war, dass ein Bundeskanzler sie so stark in den Vordergrund gestellt hat.
AUSSENPOLITIK
Wenn wir heute über Außenpolitik nachdenken, geht es nicht in erster Linie darum, einen Großen unserer Vergangenheit zu kopieren. Es geht darum, uns der Erkenntnis nicht zu verschließen, dass für uns als kleinen Staat die Außenpolitik und insbesondere die europäische Integrationspolitik so wichtig sind, dass sie sogar Teil der Innenpolitik geworden sind. Ein Bundespolitiker, der nicht der Außenpolitik einen ganz prominenten Platz einräumt, hat einen Teil seiner Aufgabe missverstanden.
In meiner Amtszeit sind wichtige Ereignisse auf uns zugekommen, die unmittelbar gar nichts mit Österreich zu tun hatten, wo Außenpolitik aber unendlich wichtig war. Dazu gehört, dass ein Nachbarland, nämlich Jugoslawien, vor unserer Tür zerfallen ist.
8.JULI 1991
Ich gab an diesem Tag im Österreichischen Nationalrat eine Erklärung ab, in der ich mich auf die Vergangenheit der Österreicher im Nationalsozialismus bezog. Nach Beendigung dieses Systems hat die Österreichische Regierung sich darauf zurückgezogen, Österreich wäre ein Opfer des Systems gewesen. Wir wären das erste Land gewesen, in dem die Hitlertruppen einmarschiert sind, und das österreichische Volk hätte nichts dafür gekonnt. Das wären eben nur die bösen Deutschen gewesen.
In dieser Rede am 8.Juli 1991 sagte ich, dass wir stolz seien auf unsere Vergangenheit, in der die Österreicher viel geleistet hätten in jeder nur denkbaren Hinsicht. Wir dürfen aber nicht vergessen und darüber hinweg gehen, dass es nicht wenige Österreicher gab, die dem Nationalsozialismus in Österreich Vorschub leisteten, ihn unterstützten, und sich selber schuldig gemacht haben, an dessen Gräueltaten teil zu nehmen. Ich habe das Ende dieser Opfertheorie erklärt und gesagt, uns betrifft keine Kollektivschuld, aber etliche Einzelne sind sehr wohl schuldig geworden. Damit habe ich mit einer Praxis aufgeräumt, die bis dahin befolgt wurde.
Diese Erklärung hat zur Folge gehabt, dass in fast allen Teilen der Welt ein wichtiges Echo entstand. In den Vereinigten Staaten, in Europa, insbesondere in den westlichen Teilen Europas und im Staat Israel. Der Staat Israel hat mich dann nach Jerusalem und Tel Aviv eingeladen. Ich bin auch hingereist, Staatspräsident und Regierungschef haben mich empfangen, wir haben gemeinsam erklärt, das Verhältnis zwischen den beiden Staaten sei nun in Ordnung, und das würde von beiden Seiten anerkannt.
Es hat mich mit großem Stolz erfüllt, dass die hebräische Universität mir ein Ehrendoktorat verliehen hat, und dass ich auf Universitätsboden in Israel den Inhalt meiner Parlamentsrede aus dem Jahre 1991 hier im Jahr 1993 wiederholen konnte. Das war Anstoß dazu, dass in den Jahren danach, auch nach meiner Amtszeit, die Normalisierung des Verhältnisses sich auch materiell ausgewirkt hat – in einer Reihe von Aktivitäten: Errichtung des Österreichischen Nationalfonds und Restitutionen und so weiter. Österreich hat damit viel dazu beigetragen, dass sein Ruf, mit der nationalsozialistischen Vergangenheit etlicher Österreicher nicht umgehen zu können, zu Ende kam. Wir haben bewiesen und bezeugt, dass wir damit umgehen können, und es in einer Art und Weise gelöst haben, dass wir mit unserem schlechten Image ein für alle Mal Schluss gemacht haben.
AMTSÜBERGABE
Es hat in der zweiten Republik kein anderer Bundeskanzler außer Bruno Kreisky länger gedient als ich. Alles zusammen genommen waren es fast elf Jahre. Ich habe in einer Nachdenkarbeit mir zurechtgelegt, dass ich meine Amtszeit nicht überdehnen möchte. Meine Überlegung war, dass wir in einer sehr schnelllebigen Zeit leben, das Politische reduziert sich nicht nur auf Programme und Inhalte, das Persönliche tritt immer mehr in den Vordergrund.
Bild, Film und Fernsehen nehmen im politischen Geschehen einen immer größeren und wichtigeren Platz ein. Die Zeit ruft, im Gegensatz zu früheren Jahren, häufiger nach Veränderungen, auch nach personellen Veränderungen. Ich dachte außerdem, eine Zehnjahresperiode wäre eine geeignete Zeit, das Amt zu übergeben.
Ich habe mir auch den Zeitpunkt ausgesucht, nämlich zwischen zwei Nationalratswahlen. Ich habe dem damals recht erfolgreichen und angesehenen Finanzminister Viktor Klima vorgeschlagen, das Amt des Bundeskanzlers zu übernehmen. Mein Kalkül war, dass er noch zwei Jahre Zeit hätte, um sich als Regierungschef zu installieren und zu profilieren. Damit konnte er sich eine gute Ausgangsposition für die nächste Nationalratswahl 1999 erarbeiten. Auch innenpolitisch war es keine unpassende Zeit: Es waren einige zu treffende Maßnahmen gut abgeschlossen.
Klima konnte mit der Aussicht auf die Präsidentschaft der Europäischen Union und der Einführung der gemeinsamen Währung doch einige interessante Tätigkeitsfelder abdecken. Die Amtsübergabe ist im Jänner 1997 erfolgt. Ich bin im Jänner aus der Bundesregierung und am 7. Juni als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei zurückgetreten. Viktor Klima wurde auch in diese Funktion vom Parteitag in Linz nachgewählt.
OSZE
Es hat aber nicht lange gedauert. Im März 1997, trat der damalige dänische Außenminister Petersen an mich heran und fragte, ob ich in einer sehr ernsten Angelegenheit der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ dienlich sein könnte. Das Thema war Albanien. Die OSZE war mit einigen Entwicklungen in Albanien konfrontiert, die ihren Grundregeln widersprachen. Albanien ist ein Mitgliedsland. Es ging um Unregelmäßigkeiten bei einer Parlamentswahl, um Übergriffe der Polizei und anderer Exekutivorgane auf politische Gegner der Mehrheitspartei.
Es war ein Bericht verfasst worden, in dem alle diese Angelegenheiten, die mit den Grundregeln der Organisation nicht vereinbar waren, aufgezeigt wurden. In der OSZE hat jedes Mitgliedsland ein Jahr den Vorsitz. In diesem Jahr war es Dänemark. Der dänisch Außenminister hat mich eingeladen, in Albanien als sein „verlängerter Arm“ die Lage zu analysieren, wie das alles einzuschätzen ist, und ob etwas dagegen unternommen werden kann und muss.
Ich habe dieses Mandat angenommen, weil ich der Meinung war, dass Albanien ein Teil des Balkans ist, der uns nahe ist, und nicht so groß ist, dass man nicht etwas positiv erledigen könnte, aber auch nicht so klein, dass es nicht zu einem Gefahrenherd werden könnte. So bin ich also nach Tirana gereist, und war vom März 1997 bis Anfang 1998 mit dieser Arbeit beschäftigt.
Es ist gelungen, die bewaffneten Überfälle zu einem Ende zu bringen, im Juni 1997 eine freie und faire Parlamentswahl abzuhalten und eine politische Ordnung zu installieren, auf deren Grundlage eine neue Regierung, ein neues Parlament gewählt wurden. Es war besonders wichtig, dass die Internationale Gemeinschaft einen Geldbetrag zur Verfügung gestellt hat, der dem weiteren Aufbau Albaniens gedient hat.
INFORMATIONSBÜRO
Ich bin von der Westdeutschen Landesbank eingeladen worden, als Berater zu fungieren. Ich habe in Wien ein kleines, aber recht wirksames Informationsbüro eingerichtet. Ich habe keine Geldgeschäfte gemacht, auch keine Kredite vermittelt. Das war nicht meine Aufgabe, das hätte ich nicht gewollt. Aber das Informationsbüro hat wichtige und wertvolle Mitteilungen über politische Zusammenhänge, politische Verhältnisse, Querverbindungen vor allem in Osteuropa, aber bis hin zum Nahen und Mittleren Osten an die Zentrale in Düsseldorf liefern können.
Das habe ich einige Jahre so gemacht. Es war sicherlich besser möglich als früher, weil durch den Fall des Eisernen Vorhangs und durch Österreichs Beitritt zur Europäischen Union Wien von einer Randlage in eine zentrale Lage Europas gerückt ist. Die Möglichkeiten, die man nach diesen Ereignissen von Wien aus hatte, waren viel größer als vorher. Diese deutsche Großbank hat das gut genützt.
SCHWIERIGE LAGE DER BANK
Die schwierige Lage, in die diese Bank später geraten ist, hat nichts mit dem Wiener Informationsbüro zu tun, das ich im Jahr 2003 geschlossen habe. Mittlerweile ist in Deutschland eine andere Entwicklung eingetreten. In dieser Handvoll von Jahren aber hat das sehr gut funktioniert.
Nachdem ich diese Beratertätigkeit zurückgelegt hatte, bin ich immer wieder eingeladen worden, an nationalen und internationalen Tätigkeiten mitzuwirken. Meist und primär mit einer außenpolitischen, integrationspolitischen Komponente.
INTER-ACTION-COUNCIL
Ich bin heute noch Mitglied eines internationalen Gremiums, welches sich „Inter-Action-Council“ nennt und eine Vereinigung ehemaliger Regierungschefs und Staatschefs ist. Diese Vereinigung nimmt einmal im Jahr zu wichtigen Themen Stellung. Wir haben uns etwa mit dem Verbot von Atomwaffen, mit der Bedeutung des Wassers in der Welt, um Sozialdissonanzen zu verhindern, beschäftigt.
Aufgrund der Ereignisse in der Finanzwirtschaft befassen wir uns mit der Ausarbeitung eines Programms für die Bekämpfung von Notsituationen. Ich bin in keiner operativen Funktion tätig und plane, mich auch schrittweise zurück zu ziehen, was durchaus meinem Lebensalter entspricht. Ich freue mich aber, dass ich da und dort gerufen und gefragt werde, um mit anderen Kollegen über wichtige Dinge nachzudenken. Ich bin froh, dass die Beiträge der Alten doch immer wieder geschätzt werden.
WIEN
Wie viele Österreicher werde ich manchmal gefragt, wo in Österreich ich geboren und daheim bin. Meine Standardantwort ist: „Ich bin Wiener von Geburt und aus Überzeugung“. Das sage ich nicht nur so, das meine ich auch. Diese Stadt ist mir nicht nur emotional ans Herz gewachsen – das sowieso. Aber es ist auch eine Stadt, die ihre Position über Jahrzehnte gut genutzt hat.
Archiv-Video vom 11.08.2014:
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Franz Vranitzky (Politiker)
Wir und Wien - Erinnerungen Elf Jahre - von 1986 bis 1997 - war Franz Vranitzky österreichischer Bundeskanzler. Er übernahm dieses Amt in einer schwierigen Zeit. Im Juni 1986 war Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten gewählt worden. Fred Sinowatz trat daraufhin als Bundeskanzler zurück. Vranitzky wurde sein Nachfolger. Im Jänner 1997 übergab Vranitzky seine Ämter als Bundeskanzler und Parteivorsitzender an Viktor Klima und kehrte ins Bankwesen zurück. Daneben blieb er weiterhin in der Politik aktiv.
Länge: 56 Min. 03 Sek.
Produktionsdatum: 2013
Copyright: Stadt Wien