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Gemeinderat, 43. Sitzung vom 26.09.2013, Wörtliches Protokoll  -  Seite 53 von 68

 

platz an diesen Moritz Schlick. Schlick war eigentlich ein Deutscher, der nach verschiedenen Stationen in Berlin, Heidelberg, Kiel, Göttingen und noch einigen anderen Städten nach Wien berufen wurde - im Jahr 1922 als Philosophieprofessor, eigentlich war er Physiker - und dort eine große Rolle gespielt hat, unter anderem als Begründer dieses Wiener Kreises.

 

Dieser Moritz Schlick wurde 1936 in der Wiener Universität erschossen, von einem seiner ehemaligen Dissertanten, aber das ist an sich nebensächlich. Heute erinnert, wenn Sie die Philosophenstiege der Universität Wien hinaufgehen - also nach dem Eingang rechts hinauf die Stiege -, eine Plakette in den Stufen der Stiege an Moritz Schlick. Dieser Mord und der anschließende Prozess haben eine Riesenaufregung im damaligen Österreich verursacht, und es hat nicht lange gedauert, bis der eine oder andere Kommentator nicht im Mörder, sondern im Ermordeten die Schuld gesucht hat.

 

Ich zitiere jetzt aus einem anonymen Aufsatz - der Autor ist bekannt, aber sein Name spielt jetzt keine Rolle, damals war er anonym -, der in einer bekannten katholischen Zeitschrift erschienen ist. Dieser Autor schreibt unter anderem - ich zitiere wörtlich: „Die höhere Seelenkunde hat nachgewiesen, dass die moderne Zerrüttung der Nerven zum großen Teil auf die Zerrüttung in der Weltanschauung zurückgeht.“

 

Der Autor verschweigt uns, was die „höhere Seelenkunde“ ist, geschweige denn, was sie nachgewiesen hat. Fraglos ist für ihn, dass die „Zerrüttung der Nerven“ - was immer das sein mag, meinen tut er den Mörder - auf die „Zerrüttung der Weltanschauung“ zurückgeht, die ihrerseits von Moritz Schlick befördert wurde. Moritz Schlick war nämlich ein überzeugter Antimetaphysiker und insofern in scharfem Gegensatz zur christlichen Metaphysik der damaligen Zeit.

 

Der Autor braucht nicht lang, bis er zu dem Schluss kommt: Die Juden haben irgendetwas damit zu tun. „Es kommt hier“ - ich zitiere wieder – „der unheilvolle geistige Einfluss des Judentums an den Tag. Es ist bekannt, dass Schlick, der einen Juden und zwei Jüdinnen als Assistenten hatte, der Abgott der jüdischen Kreise Wiens war. Der Jude ist der geborene Ametaphysiker, er liebt in der Philosophie den Logizismus, den Mathematizismus, den Formalismus und Positivismus, also lauter Eigenschaften, die Schlick in höchstem Maße in sich vereinigte.“

 

Letzteres stimmt sogar. Im Übrigen sind das alles Dinge, die die moderne Wissenschaft sehr hochhält. Aber das wusste der damalige Autor nicht.

 

Er schreibt dann weiter: „Wir möchten aber doch daran erinnern, dass wir Christen in einem christlich-deutschen Staate leben, und dass wir zu bestimmen haben, welche Philosophie gut und passend ist.“

 

Und postwendend kommt er auf die sogenannte „Judenfrage“ zu sprechen, deren Regelung ja „im Interesse der Juden selbst gelegen sei, da sonst“ - ich zitiere wörtlich -, „da sonst eine gewaltsame Lösung derselben unvermeidlich sei. Hoffentlich beschleunigt der schreckliche Mordfall an der Wiener Universität eine wirklich befriedigende Lösung der Judenfrage!“, schreibt dieser Autor.

 

Das hat natürlich seinerseits wieder Kommentare ausgelöst, nicht zuletzt von anständigen Katholiken, die darauf reagiert haben und gegen diese, wie einer schreibt, schamlose antisemitische Propaganda protestiert haben - allerdings teilweise mit Argumenten, wo es einen dann doch ein bisschen reißt! Nämlich einer schreibt: „gemeine antisemitische Propaganda, die überdies völlig an den Haaren herbeigezogen ist, da Professor Schlick reiner Arier war“, und im Übrigen Mitglied der Vaterländischen Front.

 

Da fragt man sich dann natürlich schon: Und wenn er jetzt kein sogenannter reiner Arier gewesen wäre? Und womöglich kein Mitglied der Vaterländischen Front, der damaligen Einheitspartei im Austrofaschismus? Was wäre dann gewesen? Wäre er dann vielleicht als Ermordeter doch schuld an seiner Ermordung gewesen?

 

Andere haben versucht, das ins Lächerliche zu ziehen. Das kann man auch aus der damaligen Zeit verstehen. Ich erzähle Ihnen das kurz, denn ich kann mir schon vorstellen, dass das damals amüsant war. Dieser Artikel ist überschrieben mit „Der Elefant und die jüdische Frage.“ Es gebe da eine alte Anekdote - im Zweifel vom 1900, 1910 -, die folgendermaßen geht:

 

„Den Vertretern verschiedener Nationen wurde einmal aufgetragen, eine Beschreibung des Elefanten zu liefern. Der Engländer kaufte sich einen Tropenhelm, ging nach Indien und brachte ein Buch mit: ‚Wie ich meinen ersten Elefanten schoss'. Der Franzose begab sich in den zoologischen Garten, unterhielt sich mit dem Wärter und verfasste eine Broschüre: ‚Der Elefant und seine Liebesaffären‘. Der Deutsche" - Klammer auf: finde ich besonders treffend – „studierte die gesamte vorhandene Literatur und publizierte dann ein fünfbändiges Werk: ‚Einführung in das Studium der Elephantologie'. Der Pole aber, dessen Vaterland noch immer nicht verloren ist, schleuderte eine politische Flugschrift hinaus: ‚Der Elefant und die polnische Frage'."

 

Mit diesem Polen vergleicht der Autor dann den anonymen Antisemiten, der nämlich, um welchen Elefanten es auch immer sich handelt, unweigerlich auf die sogenannte Judenfrage zu sprechen kommt. Und der Autor sieht in dieser Einstellung – wörtlich: „manche Anzeichen eines delirierenden Verfolgungswahnsinns.“

 

Das hat einiges für sich. Allerdings wurde ja zwei Jahre später, 1938, in Österreich dieser „delirierende Verfolgungswahnsinn“ schlicht Realität. Und in Deutschland war dieser „delirierende Verfolgungswahnsinn“ schon spätestens seit 1933 Realität.

 

Das hat man damals nicht so wahrgenommen oder wollte es nicht so wahrhaben. Aber ich finde, wenn wir jetzt immer den Fokus sozusagen auf Auschwitz und die Vernichtungslager lenken, dann sollten wir das gleiche Augenmerk auf die Vorgeschichte lenken: auf die Vorgeschichte, wann immer Bürgerrechte, Menschenrechte, die grundlegenden Grund- und Freiheitsrechte gefährdet sind, gefährdet waren und nicht beachtet waren.

 

Denn damals hatte das ja schon lange vor der berüchtigten Wannsee-Konferenz begonnen, die Verfolgung der Juden. Von der Wannsee-Konferenz musste

 

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