5.6 Unter dem Asphalt, da liegt der Strand
Soziologische Gedankensplitter zur Wiener Untergrundstadt: Die U-Bahn als Spiegel des Sozialen: Nach Marc Augé, dem Anthropologen der Metro und der Nicht-Orte, zwingt die Untergrundbahn „jedem Individuum Wege auf, bei denen dieses ganz besonders den Sinn der Beziehung zu anderen zu spüren bekommt“. Drei beliebige Szenen aus der Wiener U-Bahn liefern die Praxis zur Theorie.
Christoph Reinprecht
Wien, Praterstern, Sonntagabend an einem Spätsommertag: Die U-Bahn füllt sich, vier jugendliche Mädchen, Geschwister in identischem Kostüm, steigen ein, sie bleiben im Türbereich stehen, in scherzhafter Unterhaltung, die Eltern sitzen ein wenig abseits, in der Nähe der Mädchen zwei junge Männer, sie tuscheln, deuten auf den Rücken eines der Mädchen, immer mehr Fahrgäste entdecken die Spinne, die auf dem Kostüm entlangkrabbelt, bis einer der beiden sich durchringt, sich dem Mädchen zuwendet, das nicht gleich versteht, dann aber laut loslacht, als sie das Tier sieht, das in einer der nächsten Stationen mit den beiden Burschen die U-Bahn verlässt.
Wien, Hauptbahnhof: Ein Straßenmusiker nimmt seine Ziehharmonika, die Musik, sehr poetisch, schafft einen Raum zum Durchatmen, Wegträumen, niemand gibt aber auch nur einen Cent, niemand blickt dem Musiker in die Augen, niemand sagt Danke.
In irgendeiner U-Bahn, in welcher auch immer, tägliche Szene in unterschiedlicher Besetzung: Eine junge Frau mit kleinem Kind will aussteigen, der Ausstiegsbereich ist durch andere Fahrgäste blockiert, von hinten wird gedrängelt, niemand sagt ein Wort, bis jemand von seinem Mobilgerät aufblickt und den Weg freimacht.
Engagement und Distanzierung
Masterpläne und nachholende Metropolitanisierung: Als ich jung war, gab es noch die Stadtbahn, und nicht wenige lästerten gegen die geplante U-Bahn. Heute ist Wien ohne U-Bahn nicht denkbar. Wäre die Linie 5 auch gebaut worden, wenn es die Lücke in der Zahlenreihe nicht gegeben hätte? Die Frage erübrigt sich. Laut Wiener Linien nutzen jährlich fast 465 Millionen Fahrgäste die U-Bahn, pro Tag sind das fast 1,3 Millionen, Tendenz weiter steigend. 1978, als die U1 ihren Betrieb aufnahm, war Wien eine schrumpfende Stadt, grau, grantig, alt, eine ehemalige Metropole an Europas Peripherie. Heute wächst die Stadt, ist internationaler, vielsprachiger, jünger, dynamischer, mobiler. Über viele Jahre war das U-Bahn-Fahren in Wien viel entspannter als in anderen Städten. Nun aber ist es auch hier dicht, enger, anstrengender.
Was erzählt uns der Alltag in der U-Bahn? Ist die unterirdische Bahn vielleicht sogar Spiegel globalisierter städtischer Zusammenhänge? Schafft sie, wie Marc Augé zugespitzt formuliert, einen der letzten öffentlichen Räume, wo jeder jeden treffen, mit beliebigen anderen in Interaktion treten, sich verbünden kann? Oder führt sie uns eher vor Augen, dass es uns nicht mehr gelingt, den anderen zu denken? Die Wiener U-Bahn als Raum von Mikrosolidarität und Aufmerksamkeit, aber auch von Rückzug und Einkapselung. In kaum einer anderen Stadt jedoch scheinen mir die Menschen gehemmter, spontan miteinander in Kontakt treten, ein Gespräch zu beginnen, einander zuzulächeln als in Wien. Warum sind so viele stumm? Sagen nichts, wenn sie aussteigen wollen? Fixieren ihr Handy? Warum und woher diese Unsicherheit?
Unter dem Asphalt, da liegt der Strand. 109 durchdesignte Stationen, barrierefrei, mit Kunst garniert, im Pilotversuch sogar parfümiert, 2.500 Überwachungskameras, eine Summe aus Geboten und Verboten: Die U-Bahn ist vor allem ein durchorganisierter, sozial normierter Raum. Aber da sind auch die Momente von Subjektivität, von Improvisation, von Gastfreundschaft. Sie erinnern die U-Bahn als einen Gegenort zur Welt des Normalen „da oben“. An geschützten Orten, schreibt Massimo Cacciari, Altbürgermeister von Venedig, fühlten wir uns letztlich noch mehr entfremdet als in der Metro.