5.2 Die Stadt auf Schiene
Über die Wechselwirkung zwischen U-Bahn-Bau und urbanem Wachstum
Bahnverbindungen – oberirdisch wie unter der Erde – sind seit jeher Stimulatoren für urbane und wirtschaftliche Entwicklung. Eine weitere Hauptrolle bei der Verdichtung der wachsenden Stadt spielen aber auch weichende Schienen, wie sich anhand ehemaliger Bahnhofsareale wunderbar zeigt.
Franziska Leeb
Die bequemste Art, das aktuelle Wiener Stadtwachstum zu beobachten, ist eine Fahrt mit der U2. Seit Oktober 2013 fährt sie bis zur Seestadt, wo es damals außer Baugruben und Dutzenden Kränen noch nicht viel zu sehen gab. Vom Karlsplatz bis zum Prater wird sie der Bezeichnung U-Bahn noch gerecht, ehe sie sich in der Krieau in Hochlage begibt, wo man dem neuen Stadtteil Viertel Zwei beim Wachsen zusehen kann. Vor Überquerung der Donau erhascht man einen Blick auf einen der längsten Straßenzüge der Stadt – auf den Handelskai, wo nächst der Donaumarina mit dem Marina Tower ein Wohnhochhaus für gehobenere Ansprüche emporwächst. Ein kurzes Stück stromaufwärts entstehen anstelle eines desolaten Parkhauses bis 2022 rund 300 neue Gemeindewohnungen mit Donaublick.
Jenseits der Donau, die malerische Naturlandschaft am Mühlwasser hinter sich gelassen, erreicht die Trasse ihren höchsten Punkt. Im Bereich der Station Stadlau dockt die U-Bahn an einen bereits bestehenden Regionalbahnhof an. Nach einem städtebaulichen Leitbild aus dem Jahr 2000 geht es hier darum, von der Bahntrasse zum Einfamilienhaussiedlungsgebiet und den Grünräumen am Wasser überzuleiten und mit dichteren Wohnformen unterschiedlicher Höhe für den notwendigen Kitt zu sorgen. Auf diese Weise soll aus einem heterogenen Etwas ein städtisches Gefüge mit hoher Aufenthaltsqualität entstehen. Stand zunächst das gedeihliche Zusammenleben der Generationen im Vordergrund, wird jüngst mit dem Thema „Essbare Stadt“ und einer 100-prozentigen Versorgung mit erneuerbarer Energie ein großer Schritt in Richtung CO2-neutraler Stadt gemacht.
Ab dem Donauspital, in dessen Umfeld die Siedlungsentwicklung des späten 20. Jahrhunderts bereits in die Zukunft weiterwächst, fühlt sich die U2- Fahrt im schleunigen Durchkurven von abwechselnd neuen Siedlungsgebieten und noch der weiteren Entwicklung harrenden Gärtnerei- und Landwirtschaftsflächen wie ein Livestream über das Wachsen und Verdichten der Donaustadt an, bei dem es kontinuierlich Neues zu sehen gibt. Wo heute noch ein Glashaus steht, tut sich morgen eine Baugrube auf.
Auf Napoleons Spuren
Der Höhepunkt der Spannungskurve tut sich am nördlichsten Punkt der U-Bahn-Trasse auf, wo aus der Distanz der Blick auf die wachsende Seestadt fällt. Auf die Tatsache, dass die neuen Wohnviertel in Aspern auf geschichtsträchtigem Boden entstehen, weist die künstlerische Intervention hin, für die es sich lohnt, in der Station Aspern-Nord die U-Bahn zu verlassen. Am 22. Mai 1809 verlor hier Napoleon während der Koalitionskriege gegen die österreichischen Truppen unter Erzherzog Karl seine erste Schlacht. Ein zweites Mal ging der Ort ein Jahrhundert später in die Weltgeschichte ein, als am 23. Juni 1912 der damals größte Verkehrsflughafen Europas seinen Betrieb aufnahm. Um diese zwei Daten spinnt der Künstler Stephan Huber seine Arbeit Aspern Affairs. An den Stirnseiten der Bahnsteige setzte er historische Karten Wiens, Abbildungen, Porträts, Lebenslinien, Zitate und eigene Kommentare zu einer dichten, vielschichtigen und ebenso aufschlussreichen wie humorvollen Panorama-Collage zusammen, die an diesem Ort im städtebaulichen Umbruch einen weit gefassten Kontext herstellt, der den neuen Stadtteil in der Geschichte verankert.
Ein weiteres Jahrhundert später sind neue Geschichten im Entstehen, und am Ziel angekommen offenbaren sich hier nicht nur Bemühungen um eine neue Kultur der Stadtplanung, sondern auch der Gendergerechtigkeit. Während in den Wiener Straßennamen bislang weit über 3.900 männliche Persönlichkeiten verewigt wurden, ist die Zahl der weiblichen Namensgeberinnen mit 356 erstaunlich gering – das sind gerade mal neun Prozent. In den weiblichen Straßennamen der Seestadt Aspern, die uns dazu animieren, neue Geschichten über die Stadt und die Welt zu erfahren, soll die Ungleichheit ein wenig ausbalanciert werden. Am besten macht man dies in einem der beiden autonom fahrenden Elektrobusse, auch Busserl genannt, die in den Nebenstraßen der Seestadt ihre fahrerlosen Testrunden drehen. Damit gehört Wien zu den ersten Städten weltweit, in denen der autonome Verkehr im urbanen, öffentlichen Lebensalltag erprobt wird.
Die ewige Baustelle Untergrundbahn
Wien und die U-Bahn: Auch das ist eine lange und wechselvolle Geschichte. „London hat eine, Paris hat eine, Berlin hat eine. Wir nicht.“ Wien fehlt eine Untergrundbahn, lautete besonders während der 1920er-Jahre der Grundtenor in zahlreichen Zeitungsartikeln und Stadtplanungskonzepten. Dabei hatte man in Wien so früh und so häufig die Errichtung unterirdischer Bahnverbindungen diskutiert, geplant und wieder verworfen wie kaum anderswo. „Bei uns zu Lande baut man erst Straßen und Häuser einer Stadt und viel, viel später erst eine Stadtbahn“, monierte 1900 der Ingenieur Edmund Barenyi. „Die Engländer gehen anders vor. Sie bauen vor allem eine Stadtbahn und dann erst die Stadt. Bei uns zerbrechen sich die armen Ingenieure den Kopf, wie sie sich mit der Linie durch die Stadt winden könnten, ohne den Häusern zu nahe zu kommen; in England dagegen müssen sich die Architekten plagen, Grundstücke für Bauten zu benützen, ohne der Bahn zu nahe zu kommen.“
Barenyi spricht damit eine Frage an, die auch die Wiener Stadtentwicklung der letzten hundert Jahre prägte. Was kommt zuerst: Die Henne oder das Ei? Während die Seestadt schon an die U-Bahn angeschlossen war, als dort noch die Kräne über den Baugruben tanzten und noch keine einzige Wohnung errichtet war, gelang es nicht überall, dass „Stadterweiterung ausschließlich entlang der Linien leistungsfähiger öffentlicher Verkehrsmittel“ erfolgte, wie es zum Beispiel der Stadtentwicklungsplan 1984 forderte. Am Wienerberg beispielsweise, der erst mit Fertigstellung der U2-Verlängerung 2028 direkt an das Stadtzentrum angebunden sein wird. Die violette U-Bahn wird sich dann von der ursprünglich kürzesten zur längsten Untergrund-Linie gemausert haben.
Von der Zweierlinie zur Fünferlinie
Von 1980 bis 2008 verlief die U2 auf der durchaus auch zu Fuß bewältigbaren Strecke zwischen Karlsplatz und Schottenring, die schon in der Vergangenheit ober- und unterirdisch von etlichen Straßenbahnlinien mit der Kennziffer 2 befahren wurde. Bis heute nennen die Wiener die Abfolge von Getreidemarkt, Museumsstraße, Auerspergstraße und Landesgerichtsstraße „Zweierlinie“ – ein Begriff, der in keinem Stadtplan vorkommt. Wenn in Zukunft die U2 am Rathaus abbiegt, um den Wiener Süden anzusteuern, und der Streckenabschnitt zum Karlsplatz fortan von der automatisch betriebenen U5 befahren wird, dürfen sich künftige Generationen für die einstige Zweierlinie, die die Alten noch ebenso volksmündlich als Lastenstraße kennen, dafür einen neuen Vulgonamen einfallen lassen.
Zunächst bis zum Frankhplatz beim Alten AKH, im Endausbau über den Elterleinplatz bis zur S-Bahn-Station Hernals wird die U5 die polyzentrale Struktur Wiens stärken und hochfrequentierte Lagen besser an das U-Bahn- Netz anbinden. Aller Voraussicht nach wird die vollautomatisch fahrende Bahn ab Ende der 2020er-Jahre eine ähnlich neue Ära im Wiener öffentlichen Verkehr besiegeln, wie dies ab 1978 die U1 tat, als sie zunächst die Innenstadt an den Arbeiterbezirk Favoriten anknüpfte. Heute führt die in mehreren Etappen sukzessive erweiterte U1 nach Leopoldau an der nördlichen Stadtgrenze und bindet auf dem Weg dorthin Großsiedlungen der 1970er-Jahre – darunter die Großfeldsiedlung und die Siedlung Trabrenngründe – an das schnelle öffentliche Verkehrsnetz an. Mit der 2017 in Betrieb genommenen Verlängerung nach Oberlaa ist zwar ein bequemer, autofreier Ausflug in die Therme Wien möglich, viel wichtiger jedoch ist die öffentliche Anbindung der bestehenden und derzeit entstehenden Wohnquartiere im Südraum Favoriten.
Die Schienen kommen, die Schienen gehen
Die Schiene und die Stadt: Das ist eine seit der Zeit der Industrialisierung enge und zugleich sprunghafte Verbindung. So wie die Adern des öffentlichen Verkehrs das Stadtbild prägen, haben auch die aufgelassenen und neu konzipierten Gleisanlagen sichtbare Auswirkungen auf das urbane Gefüge. Anderthalb Jahrhunderte lang waren der bürgerliche Bezirk Wieden und der Arbeiterbezirk Favoriten durch die weitläufigen Gleisanlagen von Süd- und Ostbahn getrennt. Erst mit deren Abbruch und der gleichzeitigen Errichtung des neuen Hauptbahnhofs konnten die städtebaulichen Barrieren beseitigt und neue Chancen für ein mentales Miteinander geschaffen werden. Einen wichtigen Beitrag leistet dazu das grüne Herz des Sonnwendviertels: der 70.000 Quadratmeter große Helmut-Zilk-Park auf dem ehemaligen Gelände des Frachtenbahnhofs. Das somit größte Parkprojekt der letzten 40 Jahre entwickelte sich rasch zum Open-Air-Wohnzimmer für die umgebenden Quartiere.
Auch der einst 85 Hektar große Nordbahnhof wurde in den letzten Jahren komplett umgewandelt. Rund um das Karree des Rudolf-Bednar-Parks entstanden innerhalb der Rasterfelder des 1994 beschlossenen städtebaulichen Leitbilds Wohnungen für etwa 20.000 Menschen. Die Bauten gingen aus Bauträger-Wettbewerben zu Themen wie „Wohnen am Park“, „Junges Wohnen“ oder „Interkulturelles Wohnen“ hervor und spiegeln damit die Bandbreite des aktuellen Wiener Wohnbaus wider. Wie schon in der Seestadt und im Sonnwendviertel sind es auch hier die Akteure der Baugruppen, die wertvolle Impulse für das kulturelle Leben und das soziale Miteinander liefern.
Für die verbleibenden 32 Hektar des Nordbahnhof-Areals entschloss sich die Stadtplanung zur Abkehr von der bisher praktizierten Blockrandbebauung. Begleitet von einem umfassenden Bürgerbeteiligungsprozess entstand das neue Leitbild, das mit stark differenzierten Gebäudehöhen, durchlässigen Sockelzonen und einem ambitionierten Freiraumkonzept einen vielgestaltigen, gut durchmischten und zeitgemäßen Städtebau in Aussicht stellt. Die Bebauung konzentriert sich an den Rändern und bildet auf diese Weise den Rahmen für die Freie Mitte – für einen Landschaftspark neuer Prägung, dessen Gestaltung die Topografie und Ruderalvegetation der Bahnbrache integriert.
Alte Bahnhöfe als neue Reserven
Unweit davon ist das benachbarte Gelände des Nordwestbahnhofs die letzte großflächige innerstädtische Flächenreserve Wiens. Angrenzend an den Augarten und die gründerzeitliche Bebauung des 2. und 20. Bezirks, wird um eine Grünachse ein neues Stadtquartier entstehen, das die umliegenden, bislang getrennten Stadtquartiere miteinander verweben soll. Auch in Meidling wird sich durch die Absiedelung der Wiener Lokalbahnen (WLB) die historische Remise mit Kultur- und Gastronomieangeboten zum Grätzelzentrum des künftigen Lebenscampus Wolfganggasse entwickeln können. Soziale Bildungseinrichtungen und Werkstätten werden hier ein vielfältiges Wohnangebot für Senioren, Alleinerziehende und Menschen in Not ergänzen.
Ebenfalls im Umbruch befindet sich das Areal des Franz-Josefs-Bahnhofs. Von Beginn an wurde der Bahnhof im Stadtraum als Störfaktor wahrgenommen. Zwar wurde der in den 1970er-Jahren errichtete, multifunktionale Bahnhofskomplex als „gestaffelte Terrassenlandschaft“ und „Fußgängerzone zum Donaukanal“ konzipiert, allerdings entpuppte sich der gläserne Bau nach einer skandalträchtigen Baugeschichte als undurchdringlicher Koloss, der bis heute den Bezirk zerschneidet. Nach Auszug der Bank Austria sowie der ebenfalls hier untergebrachten Wirtschaftsuniversität ist nun der Weg für einen Neustart als „Althan Quartier“ geebnet – mit einem Mix aus Wohnen, Büros, Hotel, Nahversorgern und zusätzlicher Infrastruktur. Mit dem geplanten Umbau bis Ende 2023 könnte diese urbane Barriere nun endlich fallen.
Franziska Leeb,
geboren 1968 in Hollabrunn, studierte Kunstgeschichte in Wien und Innsbruck. Seit 1996 arbeitet sie als freischaffende Architekturjournalistin für Tageszeitungen und Fachzeitschriften, zunächst für Der Standard, heute u. a. für Die Presse und architektur.aktuell. Von 1998 bis 2001 war sie Chefredakteurin des Fachmagazins architektur. Von 2003 bis 2006 leitete sie das ORTE Architekturnetzwerk Niederösterreich. Von 2015 bis 2016 war sie Chefredakteurin der Kammerzeitschrift KONstruktiv. Zuletzt erschienen bei Birkhäuser die beiden Bücher Architektur von Dietrich | Untertrifaller und querkraft – livin’ architecture, beide in Co-Herausgeberschaft mit Gabriele Lenz.