2.4 Wien und der Zufall
Am frühen Morgen des 1. August 1976 ist die Reichsbrücke eingestürzt. Ich war kurz davor, über sie in den Urlaub zu fahren. Vielleicht liegt es daran, dass ich den Begriff „Zufall“ nicht im stochastischen Sinne verwende. Die reale Entwicklung dieser Stadt in den Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahren war lange Zeit nicht so sehr Zufall als vielmehr Resultat einer Planungsmentalität, die die politische – und auch die der Stadtbewohner inhärente – Skepsis gegenüber neuen Entwicklungen widerspiegelte.
Kurt Mittringer
Das Nichtrealisieren einer „autogerechten Stadt“ und das Belassen der Straßenbahngleise (anders als in anderen Großstädten)... der eher komfortbegründete Aufbau des U-Bahn-Netzes in den Siebzigern ... das Großprojekt „Sanfte Stadterneuerung“ zur sozial verträglichen Standardanhebung des Wiener Wohnungsbestandes ... der große Mietwohnanteil ... der Hochwasserschutz Donauinsel, der als ingenieurtechnisches Projekt begonnen hat, dann aber als Chance für einen einzigartigen Grünraum mit U-Bahn-Anbindung und 40 Kilometer Uferbereich erkannt wurde – das sind die prominentesten Beispiele.
Doch nicht jedes Albtraum-Potenzial wurde durch die Beispiele anderer Städte auf ihre Wien-Tauglichkeit prüfende Stadtpolitik und Stadtplanung in ihr Gegenteil abgewendet. Diesmal wirklich Zufall: Nach dem Scheitern der Expo 95 wurde aus der Plattform für ein zweites Stadtzentrum, das die City als Business-Hub entlasten sollte, nach dem zufälligen (oder gar nicht so zufälligen) Einbruch der Büroflächennachfrage ein eher verdichteter Siedlungsschwerpunkt, der sein Potenzial bis heute nicht ausgeschöpft hat. Außerdem, so scheint mir, wurde in der Wiener Abwesenheit von Hochhäusern in einem sich neu formenden Europa ein Nachteil gesehen. Im Zwang nach mehr modern erscheinenden Qualitäten hatte die Reaktion darauf allzu standortliberale Hochhauskonzepte zur Folge.
Ja, Stadtplanung hat auch mit Fehlentscheidungen zu tun. Digitalisierung und Klimawandel jedoch bieten meiner Meinung nach erneut die Chance, bestehende Stadtstruktur besonnen und intelligent zum Vorteil zu nutzen.
Kurt Mittringer,
geboren 1955 in Wien, studierte Raumplanung an der TU Wien und ist Leiter des Referates Stadt- und Regionalentwicklung in der MA 18. Er ist ebenso Leiter der Geschäftsstelle der Stadtentwicklungskommission, die aus der Stadtregierung und den höchstrangigen DirektorInnen und Beamten zur Beschlussfassung stadtbedeutender räumlicher Entscheidungen besteht.