Schrägluftfotografie der Donau City
2. Die Stadt als wachsender Organismus

2.3 Willkommen in der Do-it-yourself-Stadt!

Wohnbau Gleis21 in der Bloch Bauer Promenade im Sonnwendviertel

Noch ist Disruption eine Variable. Doch wenn sich die Tendenz bestätigt, könnte die von Bürgern und Bürgerinnen bewusst herbeigeführte Störung und Irritation schon bald zu einer Konstanten in der Stadtplanung werden. Ein Blick in die Zukunft des Munizipalismus.

Wojciech Czaja

„Eigentlich“, erinnert sich Sebastian Schublach, „hätte die Bloch-Bauer-Promenade eine verkehrsberuhigte Wohnstraße werden sollen. So wollte es der Bezirk entgegen dem ursprünglichen Masterplan-Konzept umsetzen. Doch je mehr Gestalt unser Projekt annahm, desto mehr kristallisierte sich bei allen Bewohnerinnen und Bewohnern heraus, dass wir vor dem Haus definitiv keine Straße haben wollen, sondern uns eine Fußgängerzone wünschen.“ Und so kam es dann auch.

Schublach, 34 Jahre alt, ist Leiter für Internationales am Karl-Renner-Institut und wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern im Gleis21. Das Haus liegt im Herzen des neuen Sonnwendviertels, genauer gesagt: zwischen Bloch-Bauer-Promenade und dem Fußweg am Rande des Helmut-Zilk- Parks, und geht auf eine Initiative von einszueins architekten und realitylab zurück. Gleis21 ist eine Baugruppe mit insgesamt 34 Wohnungen und einigen gemeinschaftlichen Annehmlichkeiten wie Werkstatt, Bibliothek, Saunahaus, Terrassenküche und sogar einem Veranstaltungssaal, der vom hauseigenen Kulturverein und vom Burgtheater-Studio bespielt wird. Im Sommer 2019 wurde das Projekt fertiggestellt und übergeben.

„Dieses Wohnprojekt ist ein Impuls für ein völlig neues Stadtviertel“, sagt Schublach, „ein Ort der Selbstermächtigung, weil hier Menschen wohnen, die ihr eigenes, aber auch das urbane Leben rundherum in die Hand nehmen und aktiv mitgestalten.“ Dem Vorschlag, die Bloch-Bauer-Promenade zu einer Fußgängerzone umzubauen, schlossen sich immer mehr Nachbarn und Nachbarinnen, immer mehr Mieter und Eigentümerinnen der umliegenden Bauten an. Es folgten 500 Unterschriften von Anrainerinnen sowie weitere 1.000 Unterschriften im Netz, begleitet von diversen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen – bis der Bezirk schließlich keine andere Wahl hatte, als sich zu beugen und auf den kollektiven Wunsch der Bevölkerung einzugehen.

Am 2. Juli 2019 wurden die Unterschriften dem Bezirksvertreter Marcus Franz übergeben. In den darauffolgenden Wochen und Monaten folgten die baulichen Maßnahmen mit Betonpflasterung in Sand- und Schiefertönen, Sitzmöglichkeiten zum Verweilen und einigen heute noch recht zarten Pflanzeninseln, die sich in den kommenden Jahren wacker werden behaupten müssen. „Es ist ein Anfang“, sagt Schublach, „und es beweist, dass sich in der Stadt von heute allmählich eine neue Form des Zusammenlebens formiert, die sich an Stadtplanung und Stadtgestaltung selbstbestimmt beteiligt.“

Zeit des Erwachens

Der zivile Aktivismus in der Bloch-Bauer-Promenade ist schon lange kein urbaner Einzelfall mehr. Immer öfter poppen in der Stadt Impulse bürgerlicher Emanzipation auf, die dem klassischen Top-down-Ansatz von Masterplanern, Städtebauern und öffentlichen Planungsinstanzen Paroli bieten – in Form von Bottom-up-Projekten, Bürgerinitiativen und anfänglich mucksmäuschenstillen Grassroot- Bewegungen, die in Summe ihres Wirkens immer lauter, immer sichtbarer, immer disruptiver werden.

Zu den aus der Kraft der Bevölkerung sprießenden Projekten gehören nicht nur Baugruppen, nicht nur öffentliche Wohnzimmer, nicht nur verkehrsberuhigte Straßengestaltungen, sondern auch die Aneignung öffentlicher Räume in Form von Flash- Mobs, Skater-Parks, Guerilla-Gardens, Open-Air-Clubbings und sogar Bottom-up-Projektentwicklungen ganzer Stadtviertel. In Wien dominieren vor allem kleinere Projekte wie etwa Parklets, eingestrickte Baumstämme oder der 2014 eröffnete Karls Garten am Karlsplatz, ein Schau- und Forschungsgarten für urbane Landwirtschaft. Für größere, umfangreichere Projekte muss man (vorerst noch) über die Stadt- und Landesgrenzen blicken.

Besonders spannende Grassroot- Projekte finden sich in deutschen Großstädten. Im Görlitzer Park in Berlin hat eine Gruppe von Anrainern in Abstimmung mit dem lokalen Grünflächenamt Äpfel-, Birnen- und Mirabellenbäume gepflanzt. In der Rottmannstraße in München haben Studierende eine Baulücke besetzt und unter dem Titel Lückenfülle in ein öffentliches Wohnzimmer verwandelt. In Bremen hat die ZwischenZeitZentrale (ZZZ) eine Human-Residency namens bay-WATCH errichtet – mit Wohnflächen, Kompost-Toiletten und Permakultur-Beeten. In Halle-Neustadt haben Kunststudenten Freiflächen besetzt und darauf Open-Air-Filmvorführungen, Pop-up-Ausstellungen und Nachbarschafts-Picknicks veranstaltet.

Häuser und Straßenbahn im Sonnwendviertel

Tipps und Tricks für Guerilla-Urbanismus

Und in Hannover, Stadtteil Linden, haben zwei Vereine 2009 eine brachliegende Gewerbefläche besetzt und in Eigenregie zu einem informellen Kleingewerbepark mit Bar, Bibliothek, Schneiderei, Tischlerei, Tattoo-Studio, Fahrradwerkstatt und diversen anderen Einrichtungen ausgebaut. Das einst temporäre Projekt hat inzwischen eine unbefristete Nutzungsvereinbarung erwirkt und wird in touristischen Reiseführern heute als Sehenswürdigkeit angeführt. Der gemeinnützige Verein stadt statt strand unter der Leitung von Laura Bruns hat in Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) sogar eine Freiraumfibel. Wissenswertes über die selbstgemachte Stadt! mit hilfreichen Tipps und Tricks zum legalen Besetzen und Benützen von urbanem Raum herausgegeben.

Mit der allmählich steigenden Zahl an derartigen Projekten mit disruptiven Momenten, die die Stadt unkontrolliert gestalten oder zumindest beeinflussen, wird auch die Flexibilität und Situationselastizität von Stadtplanung und Stadtentwicklung zunehmen müssen. Noch ist Disruption vielerorts eine Variable, aber sie könnte schon bald zu einer Konstante werden – wie zum Beispiel in Lissabon. Nachdem die Stadt schon vor der Finanzkrise 2008 knapp bei Kasse war, wurden rund 30 Krisengebiete definiert, in denen sich Stadtbürger auf sehr niederschwellige Weise – in den meisten Fällen reicht ein einseitiges Konzept aus – um Förderung für Kleinprojekte im öffentlichen Raum bewerben können. In Summe gibt die die Stadt dafür rund zwei Millionen Euro pro Jahr aus.

„Der Munizipalismus, die Tendenz zum Urban Citizenship, ist eine der wichtigsten Entwicklungen in der heutigen europäischen Stadt“, sagt Angelika Fitz, Direktorin des Architekturzentrum Wien (AzW). „Es bedarf eines Neudenkens in Fragen urbaner Mitgestaltung, und dazu braucht es paradoxerweise beides – sowohl eine starke öffentliche Stadtplanung als auch breit gestreute Möglichkeiten für Eigeninitiative, um sich als Bürger, als Bürgerin selbst in die Stadtentstehung einbringen zu können. In diesem Bereich könnte Wien eine Reparatur, eine Intensivierung gut gebrauchen.“

Vier Personen unterschiedlicher Herkunft pflegen einen gemeinsamen Garten