2.2 „Eine Stadt ist wie ein Billy-Regal, klare Struktur, viele Inhalte“
Wojciech Czaja im Gespräch mit Thomas Madreiter
Thomas Madreiter, Planungsdirektor der Stadt Wien, ist nicht nur leidenschaftlicher Läufer, sondern auch ein kritischer Hinterfrager von Planungsprozessen und Verwaltungsstrukturen. Wollen wir wirklich wieder zur hybriden Stadt zurückfinden, sagt er, führe an einem neuen Verhältnis von Verwaltung und Gesellschaft kein Weg vorbei. Dazu bräuchte es Vertrauen und Gelassenheit.
In einem Interview mit dem „Falter“ vor rund einem Jahr haben Sie gesagt, dass Sie jeden Abend vom Rathaus nach Hause laufen. Sind Sie konsequent?
Madreiter: In der Regel schon. Ich fahre in der Früh mit der U-Bahn ins Rathaus, habe meine Sportsachen in einem Rucksack mit und ziehe mir am Abend, wenn ich das Büro verlasse, die Laufklamotten an, um nach Hause zu laufen. Es hat eine Zeitlang gebraucht, bis ich die Kleidungslogistik mit Laufschuhen und frischen Klamotten perfektioniert habe, aber es funktioniert ganz gut.
Wie viele Kilometer sind das?
Madreiter: Ich wohne in einer Roland- Rainer-Siedlung in der Donaustadt, ein Stückerl östlich vom SMZ Ost. Das sind ziemlich genau 12,5 Kilometer.
Wie gut eignen sich die Wiener Straßen als Laufstrecke?
Madreiter: Aus Läuferperspektive würde ich Wien die Schulnote 2 minus geben.
Warum keine 1?
Madreiter: Weil die Straßen in der Innenstadt und in den Innenbezirken historisch gewachsen sind und die Gehsteige oft ein bisschen zu schmal dimensioniert sind. Man kommt vielen nicht laufenden Menschen in die Quere. Aber dadurch, dass ich fast immer zu Tagesrandzeiten nach Hause laufe, meist schon in den Abendstunden, halten sich die Reibungsverluste in Grenzen.
Haben Sie eine Lieblingsstrecke?
Madreiter: Ich bevorzuge die Rückseiten der Stadt, die vergessenen Orte, die Brüche.
Zum Beispiel wo?
Madreiter: Erdberger Mais ist ein wunderbares Beispiel für einen Systembruch. Aus meiner Perspektive ein wunderbarer Ort.
Die Charta von Athen 1933 hatte enorme Auswirkungen auf die Stadt der Moderne. In den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren wurden als Reaktion darauf die urbanen Funktionen in vielen Städten räumlich aufgedröselt. Als Verbindungsmittel zwischen den einzelnen Bereichen Wohnen, Arbeiten und Freizeit diente vorrangig das Auto. Inwiefern hat sich diese Denkschule auf Wien niedergeschlagen?
Madreiter: Das große Glück ist, dass Wien um 1900 eine bereits fertig gebaute Stadtkulisse für rund zwei Millionen Menschen hatte. Dadurch waren große Teile der Stadt schon angelegt und mussten im Gegensatz zu vielen anderen Metropolen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nicht mehr auf dem Reißbrett aus dem Erdboden gestampft werden. So gesehen ist Wien von der Moderne, von der Charta von Athen und von den parametrischen Planungsgrundlagen der autogerechten Stadt weitgehend verschont geblieben. Lediglich in den Außenbezirken und in den großen Wohnquartieren aus den Siebzigern und Achtzigern sind die Nachwehen der Moderne bis zu einem gewissen Grad noch spürbar.
Wo genau gibt’s denn Defizite?
Madreiter: Zum einen in den großmaßstäblichen Strukturen und in der Zelebrierung des Individualverkehrs – aber, wie gesagt, weniger stark als anderswo. Das merkt man beispielsweise daran, dass Mammutprojekte wie die Gürtelautobahn, die ja lange Zeit intensiv diskutiert wurde, abgewendet werden konnten. Zum anderen im öffentlichen Raum, denn im Umgang mit Lebendigkeit und vor allem mit urbaner Enge sehen wir seit der Moderne große Gestaltungsdefizite. Und das ist wirklich bedauerlich, denn Stadt ist ja nicht nur ein Ort von sozialer, kultureller und intellektueller Freiheit, sondern auch ein Ort von Intensität und menschlicher Interaktion. Dazu braucht man oft auch eine gewisse räumliche Nähe. Paris ist das perfekte Beispiel dafür.
In den Gemeindebauten in Favoriten, Simmering, Brigittenau, Floridsdorf und Donaustadt fehlt genau das!
Madreiter: In den Wohnquartieren am Stadtrand haben die vorgefertigten Blocksysteme und die damit verbundene Funktionstrennung zu einer Enturbanisierung geführt, die wir bis heute nicht im Griff haben. Es fehlt die Dichte, es fehlt die Infrastruktur, es fehlt die Lebendigkeit, die in Wien zur hohen Lebensqualität beiträgt. Die Frage ist: Sind diese Strukturen überhaupt adaptierbar und reparierbar?
Sind sie es?
Madreiter: Wirklich flexibel und adaptierbar sind diese Strukturen nicht, fürchte ich. Aber wir können gezielt reparieren. Für die Gegenwart und Zukunft gilt es, die Stadt so weiterzubauen, dass nachträgliche Korrekturen und Reparaturen ohne großen Aufwand möglich sein müssen – beispielsweise dann, wenn sich Gesellschaft, Lebensumstände und Qualitätsvorstellungen in ein paar Jahrzehnten geändert haben sollten.
Wie kann diese Qualität sichergestellt werden?
Madreiter: Mit der richtigen Balance aus Fachexpertise, vorausschauendem Blick und partizipativer Planung. Ohne jeden Zweifel braucht es einen Paradigmenwechsel, ohne jeden Zweifel müssen wir wieder zu mehr Hybridität in der Großstadt zurückfinden. In Zeiten, in denen etwa die Wirtschaftskammer ihr Herz für Begegnungszonen entdeckt, während sie jahrzehntelang Straße, Parkplätze und Individualverkehr propagierte, mache ich mir da aber keine Sorgen.
In Zukunft keine Garagen mehr in Gründerzeithäusern – wäre das auch so ein Paradigmenwechsel?
Madreiter: Unbedingt! Die Garagen als tote Augen im Erdgeschossbereich müssen unbedingt ein Ende haben.
Seit vielen Jahren wird darüber diskutiert, wie es gelingen könnte, das Ausreizen der Bauhöhe mit möglichst vielen 2,50 Meter hohen Wohnungen übereinander zu stoppen. Viele wünschen sich, dass die Bauhöhe in Zukunft in Geschosszahlen und nicht in Metern vorgegeben wird. Wäre das auch ein Umdenken?
Madreiter: Ich halte Versuche in diese Richtung für sinnvoll, gebe aber gleichzeitig zu bedenken: Wer um jeden Preis optimieren und den vorgegebenen Rahmen ausreizen will, wird das machen, ganz gleich, welche Kriterien hier zugrunde liegen.
Sie haben vorhin die partizipative Planung angesprochen. Wie genau plant man Stadt im Kollektiv?
Madreiter: Wir sprechen immer von der hybriden Stadt, von transparenten Prozessen, von Handlungsspielräumen für die Bevölkerung. Zugleich aber weht immer noch ein Geist von Joseph II. durch Wien, der sagte: „Alles für das Volk nicht, nichts durch das Volk.“ Auch heute noch werden Verwaltung und Politik gern für alles verantwortlich gemacht, während die Aufgaben und Möglichkeiten der Bevölkerung leider etwas unterbelichtet werden. Das geht nicht, das lässt sich nicht vereinbaren. Es gibt erfreulicherweise bereits genügend Beispiele, wo eine Mindset-Veränderung stattfindet, wo die Menschen zunehmend ihre Partizipationsrechte in Anspruch nehmen. Ich denke da nur an Baugruppen, aber auch an „Coole Straßen“, an Urban Gardening, an Parklets und so weiter. Wir sind mittendrin.
Ist diese partizipative Mitgestaltung, die Sie hier anführen, in der hybriden Stadt von morgen ein Recht oder eine Pflicht?
Madreiter: Mitgestaltung kann keine formelle Pflicht werden. Das kann immer nur eine Einladung, ein offen kommunizierter Handlungsspielraum sein. Es geht um die lustvolle Einbringung in den Gestaltungsprozess.
Gibt es internationale Städte, die Ihnen dabei als Vorbild dienen?
Madreiter: Einige! Hamburg, Amsterdam, Kopenhagen, Oslo, Stockholm ... Interessant ist, dass es sich dabei oft um Städte mit einer schwächer ausgeprägten Verwaltungsstruktur handelt, in der das zivile Engagement historisch betrachtet immer auch als Kompensation zu verstehen war.
Schwach ausgeprägte Verwaltungsstruktur – das trifft ja auf Wien nicht wirklich zu.
Madreiter: Bingo!
Was tun?
Madreiter: Stadtplanung soll sich darauf konzentrieren, klare, präzise Vorgaben zu machen – und zwar dort, wo es wirklich notwendig ist, um Rahmenbedingungen zu schaffen, um Grenzen abzustecken, um Prozesse anzuregen. Das heißt im Gegenzug aber: Überall dort, wo es um Vertiefung, Konkretisierung und Detailgestaltung geht, muss die Eigenverantwortung privater Akteure verstärkt wahrgenommen und auch gesellschaftlich eingefordert werden. Ja, das braucht Vertrauen und Gelassenheit. Eine geglückte Beziehung basiert ja auch nicht auf einem 200- seitigen Ehevertrag.
Im Klartext also: Verwaltung abbauen?
Madreiter: Nicht in erster Linie. Aber die Stadtplanung muss ihr Rollenverständnis im Sinne einer Konzentration auf das Wesentliche weiterentwickeln. Oder, um es mit einem uns allen bekannten Bild zu sagen: Stadtplanung und Stadtentwicklung ist das Aussuchen und Aufstellen eines guten, robusten Billy-Regals. Doch ob in dieses Billy-Regal dann Bücher, Heftchenromane oder goldene Hirsche hineingestellt werden – da kann sich die Stadt ruhig auch ein bisschen zurücknehmen. Ganz nach dem Motto: Struktur first, Inhalt second. Eine solide, historisch gewachsene Stadt hält das schon aus.
Bleiben wir noch kurz bei den Verwaltungsstrukturen. In Wien kümmern sich mehrere Magistratsabteilungen und Planungsstellen um die Stadtplanung und Stadtentwicklung – darunter etwa MA 18, MA 19, MA 20, MA 21, MA 28, MA 33, MA 37, MA 42, Wiener Stadtwerke sowie die Baudirektion. Wer kennt sich da noch aus?
Madreiter: Die Schnittstellen sind glücklicherweise sehr gut und präzise formuliert. Aber ja, ich gebe Ihnen Recht: Das sind ziemlich viele Instanzen, die hier an der Zukunft der Stadt mitarbeiten. Das ist einerseits gut, denn eine komplexe Wirklichkeit erfordert viele Kompetenzen, andererseits schlecht, weil die Struktur für einen außenstehenden Bürger kaum noch zu durchschauen ist. Gerade im Bereich der behördlichen Einreichung von Bauvorhaben arbeiten wir mit der digitalen Baueinreichung aber an einer maßgeblichen Vereinfachung.
Wie sieht die Kommunikation zwischen den einzelnen Magistratsabteilungen aus?
Madreiter: Intensiv.
Was sind bei Ihnen in der Planungsdirektion die wichtigsten Themen für die nächsten Jahre?
Madreiter: Klimakrise und Anpassung unserer Planungs- und Baukultur an diese brisante Entwicklung. Wien ist, was den Klimawandel und den zu befürchtenden Temperaturanstieg betrifft, eine der am stärksten betroffenen Städte Europas. Was kaum jemand weiß: Der bisherige Wiener Temperaturanstieg war etwa doppelt so hoch wie der globale Durchschnitt. Wien liegt hier im europäischen Spitzenfeld. Wir müssen unbedingt eine offensive Position im Klimaschutz einnehmen. Das ist die dringlichste Mission für die nächsten Jahre und Jahrzehnte. Daran führt kein Weg vorbei.
Wenn wir einen Blick ins Jahr 2100 werfen: Wo steht Wien, sollte diese Mission misslingen?
Madreiter: Wien wird weiter existieren und mit großer Gewissheit nach wie vor eine schöne Stadt sein. Die Innenstadt aber wird eine unattraktive Tourismus-und Business-Wüste sein, und diejenigen, die es sich leisten können, werden ins kühlere Stadtumland hinausziehen, womit der individuelle Pendlerverkehr zunehmen wird. Ich bin von Natur aus kein Pessimist. Das würde schon irgendwie funktionieren. Aber ein tolles Wien stelle ich mir anders vor.
Wie schaut das tolle Wien aus, wenn die Mission gelingt?
Madreiter: Wien wird heißer sein als heute. Let’s face that. Aber ich sehe eine Stadt mit hochwertigem öffentlichem Freiraum, mit durchmischten Nutzungen, mit hybriden Strukturen, mit viel Grün, mit Wasserflächen, mit deutlich weniger Autos, mit einem noch dichteren öffentlichen Verkehrsnetz, mit – wer weiß – einer U7, U8 und U9, mit weiteren Straßenbahn-Linien, mit Wasserstoff-Bussen und mit einer polyzentralen Struktur, in der die Subzentren in den Innen- und Außenbezirken an Attraktivität und Lebendigkeit dazugewonnen haben. Wien wird ein internationaler Showcase mit einer entsprechenden wirtschaftlichen Prosperität sein. Ob das wirklich gelingt, liegt an uns allen.
Thomas Madreiter,
geboren 1967 in Radstadt (Salzburg), studierte Raumplanung an der TU Wien und arbeitet seit 1995 im Wiener Magistrat – zunächst als Planungsreferent in der Flächenwidmungsabteilung (MA 21), anschließend in der MA 19 (Architektur und Stadtgestaltung) und in der Geschäftsgruppe Finanzen, Wirtschaftspolitik und Wiener Stadtwerke. Von 2005 bis 2013 war er Leiter der MA 18 und baute die Abteilung für Energieplanung (MA 20) auf. Seit 2013 ist er Planungsdirektor.