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Gemeinderat, 70. Sitzung vom 23.09.2015, Wörtliches Protokoll  -  Seite 60 von 94

 

und Menschverachtung an ihren Privilegien festzuklammern.

 

Verzeihen Sie mir, wenn ich meine heutige Abschiedsrede nicht dafür nutze, höfliche Dankesworte auszusprechen und Versöhnlichkeit zu demonstrieren. Unsere Rechte, unsere Demokratie, der Respekt und die Akzeptanz von Menschen wurden nicht mit Dankesworten und Versöhnlichkeit errungen, sondern im Konflikt mit den Profiteuren von Ausbeutung und Unterdrückung.

 

Ich habe diese junge rot-grüne Regierungskoalition immer als eine historische Chance gesehen, den Geist des Roten Wien aufzugreifen und in die Zukunft zu tragen. Solche Chancen sind nicht naturgegeben. Ich möchte hier ausdrücklich Bgm Michael Häupl und allen, die dafür gekämpft haben, dafür danken, dass sie vor fünf Jahren der sprichwörtlichen Wiener Gemütlichkeit eine Absage erteilt und den Mut gehabt haben, sich darauf einzulassen.

 

Ich bin mir allerdings als einer, der mit an Bord sein durfte, nicht sicher, ob wir wirklich alles getan haben, um diese historische Chance zur Gänze auszuschöpfen.

 

Wir haben gemeinsam viel bewegt. Wir haben uns gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen gestellt, ebenso wie jenen einer rasant wachsenden Stadt, zunehmenden Verteilungskämpfen, sozialen und kulturellen Konflikten. Wir haben Werte wie Vielfalt, Gleichberechtigung und Weltoffenheit hochgehalten, Schwächeren geholfen, uns auch den dunklen Seiten unserer Vergangenheit gestellt, unsere weltweite Spitzenposition in Sachen Lebensqualität und Kultur verteidigt und sogar 800 m Einkaufsstraße verkehrsberuhigt. Das ist alles nicht kleinzureden.

 

Aber denken wir doch einmal darüber nach, was alles möglich wäre, wenn zwei einander grundsätzlich wohlgesonnene, in weltanschaulichen Fragen ähnlich denkende und dem Gemeinwohl verpflichtete Parteien miteinander eine Stadt regieren. Wenn Sie das gemeinsam machen würden, und mit gemeinsam meine ich hier nicht nur das Hintanstellen persönlicher Eitelkeiten, Machtinteressen und Pfründe, sondern vor allem die Erkenntnis, dass Politik in einer diversen Gesellschaft heute nicht mehr nur von oben funktionieren kann, mit dem paternalistischen Gestus „wir wissen, was gut für euch ist“, sondern indem wir die Menschen, die unser Abgeordnetengehalt bezahlen und deren Vertrauen wir gewinnen wollen, aktiv ermächtigen und in die Entscheidungsprozesse mit einbeziehen, indem wir ihre Hoffnungen befeuern, ihre Expertise nutzen und diese Stadt, ihre Verwaltung, ihre Ressourcen, ihr Wissen und ihren öffentlichen Raum als etwas begreifen, das uns allen gehört, allen, die hier leben und allen, die hier leben wollen, allen, die hier Perspektiven suchen, ihre Träume verwirklichen und gemeinsam gleichberechtigt mitgestalten wollen. Was wäre alles möglich, wenn wir unsere politischen Entscheidungen nicht danach ausrichten würden, was ein hetzerischer kleingeistiger Boulevard uns als Volksmeinung verkauft, wenn wir diesen Sumpf der Mieselsucht nicht auch noch mit Inseratenmillionen hochpäppeln würden (GR Mag Dietbert Kowarik: Der einzige Mieselsüchtige sind Sie!), wenn wir der Angst vor Fremdem, Neuem, Ungewohntem, der Angst vor dem Scheitern und Kritisiertwerden ein selbstbewusstes und dennoch bescheidenes „wir schaffen das, aber wir schaffen das nicht ohne euch“ entgegensetzen würden! (Beifall bei GRÜNEN und SPÖ.)

 

Was wäre alles möglich, wenn wir Wien als Gegenmodell zu einer verkrusteten, veränderungsresistenten, lust- und farblosen Bundesregierung positionieren würden, wenn wir kooperativen Gestaltungswillen, Ehrlichkeit, Großzügigkeit und Wertschätzung miteinander und mit der Zivilgesellschaft leben würden, statt als Linke oder Linksliberale auf das konservative und neoliberale Modell von Konkurrenz und Wettbewerb zu setzen! Was wäre alles möglich, wenn wir statt paternalistischer Besserwisserei kommunalpolitische Entscheidungen tatsächlich gemeinsam mit und nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt treffen würden, wenn wir wirklich alle Lebensbereiche, so wie das Bruno Kreisky einmal formuliert hat, mit Demokratie durchfluten würden! Und damit meine ich ausdrücklich keine Volksbefragungen oder Werbebotschaften, die nur unsere eigene Machtposition bestätigen sollen, sondern im Gegenteil die Ermächtigung zu Kritik und Widerspruch.

 

Was alles möglich wäre und wozu die Menschen in dieser Stadt fähig sind, zeigt sich gerade in den letzten Wochen, wo der Staat auf so vielen Ebenen sein Totalversagen demonstriert, wo unsere Bundesregierung und allen voran eine seelenlose Innenministerin ihren Mangel an Empathie und Kompetenz tagtäglich vorführen, indem sie traumatisierte Menschen, Männer, Frauen und Kinder, im überfüllten Flüchtlingslager Traiskirchen verwahrlosen lassen. Gerade in diesen Wochen zeigt sich die unglaublich schöne, große und reife Kraft der Zivilgesellschaft, die die Sache einfach in die Hand genommen hat, anstatt darauf zu warten, bis wir PolitikerInnen vielleicht auch einmal auf die Idee kommen, unseren Job zu machen! Den vielen Hunderten Menschen, die den ganzen Sommer über versucht haben, das Leid in Traiskirchen zu lindern, sind jetzt Abertausende gefolgt, die die Flüchtlingsbetreuung mit einer hochkomplexen Infrastruktur an den Bahnhöfen einfach in die Hand genommen haben, und das mit einer Professionalität, mit einem Einsatz, einer Selbstverständlichkeit und einer Freude, wo man sich fragt: Woher kommen die auf einmal alle? Haben die das immer schon gemacht?

 

Ich kann euch verraten, ein paar von denen haben das immer schon gemacht. Da sind Leute dabei, die auf zivilgesellschaftliche Netzwerke zurückgreifen können, die sie über Jahre hinweg aufgebaut haben, in sozialen Bewegungen, wie „Uni brennt“ oder „Refugee Camp“, in der Zusammenarbeit oder auch in der Auseinandersetzung mit professionellen Organisationen, wie Caritas und Diakonie, oder zum Beispiel auch der Muslimischen Jugend Österreichs, aber auch mit politischen VertreterInnen - ich schaue jetzt einmal zur Birgit Hebein -, die über Jahre hinweg immer den Kontakt und den Austausch zur Zivilgesellschaft gesucht und gepflegt und wiederum ihre Netzwerke angeworfen und zur Verfügung gestellt haben. Das alles wird möglich, wenn Menschen zusammenarbeiten, ohne zuerst auf ihr Ego und ihren

 

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