Gemeinderat, 24. Sitzung vom 25.06.2012, Wörtliches Protokoll - Seite 116 von 125
Leider entspricht das jetzt nicht ganz der Realität. Viele haben schon von der Baustelle Bildung gesprochen. Ich möchte jetzt auch überhaupt nichts beschönigen. Auch ich bin der Meinung, dass es eine große Baustelle gibt, nämlich das österreichische Bildungssystem. Leider ist unser Bildungssystem nicht darauf ausgelegt, diesen Traum, von dem ich gesprochen habe, zu erfüllen, Chancen zu geben und umzuverteilen, Leuten Chancen zu geben, die sie sonst nicht haben. Oft geschieht genau das Gegenteil: Bildung wird nicht vermittelt, sondern Bildung wird vererbt. Ich glaube, das ist einer der zentralen Missstände unserer Gesellschaft überhaupt. Es ist das nämlich eine Festschreibung einer himmelschreienden Ungerechtigkeit, und dagegen müssen wir auftreten! (Beifall bei SPÖ und GRÜNEN.)
Manchmal wird gesagt, dass das so ist, weil individuelle Leistungen halt den Meister oder die Meisterin machen. – Meiner Meinung nach kann das aber mit individueller Leistung total wenig zu tun haben. Man muss sich nur die Statistiken anschauen. Da kann man zum Beispiel lesen, dass ein Mädchen, das auf dem Land in einer Gemeinde, die unter 3 000 Einwohner hat, aufwächst und deren Eltern beide Pflichtschulabschluss haben, nur eine 2-prozentige Chance hat, dass sie jemals eine Uni oder eine Fachhochschule abschließt. 2 Prozent! Hingegen beträgt die Chance für ein Mädchen, das in Wien oder in einer anderen großen Stadt in Österreich aufwächst und deren Eltern Akademiker sind, ebenfalls Akademikerin zu werden, 63 Prozent.
Ich meine überhaupt nicht, dass es das oberste Ziel eines jeden Menschen ist, AkademikerIn zu werden: Aber zwischen den 2 Prozent und den 63 Prozent muss mehr liegen als individuelle Leistung! Zwischen den 2 Prozent und den 63 Prozent steht ein Schulsystem, mit welchem soziale Ungleichheit vererbt wird. Auf diese Weise gibt es nicht nur Ungerechtigkeit, sondern es geht ein riesengroßes Potenzial verloren. (GR Mag Dietbert Kowarik: Warum tun Sie nichts dagegen?)
Eine gute Frage ist: Woran liegt das? – Dafür gibt es unterschiedliche Gründe, und ich komme auch noch darauf zurück, was das für Wien bedeutet. Ein Grund ist: Es gibt viel zu wenig elementare Bildungseinrichtungen in Österreich. Ich habe mir gerade vorher eine Statistik vom Österreichischen Institut für Familienforschung angeschaut: Daraus ist ersichtlich, dass von allen Kindern unter 3 in Österreich 72 Prozent ausschließlich außerinstitutionell, also nicht in einer Kinderbetreuungseinrichtung oder einer Krippe betreut werden. Es wurden nicht alle Länder aufgezählt, aber jedenfalls Norwegen, Finnland, Schweden, Frankreich und Großbritannien, und ich habe kein anderes Land gefunden, in dem dieser Prozentsatz so hoch ist. Der Grund dafür ist, dass es schlicht und einfach zu wenige institutionelle Kinderbetreuungsplätze gibt.
Ich sage das jetzt im Zusammenhang mit Bildung, weil ich zutiefst davon überzeugt bin, dass jene Kinderbetreuungsplätze elementare Bildungseinrichtungen sind. Das zeigt jede Studie. (Beifall bei SPÖ und GRÜNEN.) Danke für den Zwischenapplaus!
Wenn man sich zum Beispiel die PISA-Ergebnisse anschaut, dann sieht man, dass diese signifikant nach oben variieren, je nachdem, ob ein Kind einen Kindergarten durchgehend besucht hat. Das weiß man, und daher kann ich mir durchaus den Schluss erlauben, dass Kindergärten und Krippen elementare Bildungseinrichtungen sind. Und Frau Kollegin Wurzer hat es schon erwähnt: Wir sind in diesem Zusammenhang mit 30 Prozent ganz knapp davor, das Barcelona-Ziel von 33 Prozent zu erreichen, wobei es Spielraum nach oben gibt, überhaupt keine Frage! Jedenfalls gibt es aber kein anderes Bundesland, in dem mehr als die Hälfte davon erfüllt wird. Im Gegenteil! In manchen Bundesländern gibt es überhaupt keine Krippen.
Bei Kindergärten schaut es natürlich viel besser aus. Immer dann, wenn die ÖVP Zahlen betreffend Kinderbetreuungsquoten in anderen Bundesländern nennt, schaut es diesbezüglich natürlich besser aus. Allerdings ist Kindergarten nicht Kindergarten. Die Arbeiterkammer hat einmal Kriterien für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie entwickelt, sogenannte VIF-Kriterien: Darunter befinden sich Punkte, wie dass ein Kindergarten zu Mittag offen haben muss. Das ist eigentlich ziemlich logisch, weil man sonst nicht richtig gut arbeiten kann! Außerdem darf er nicht vor drei Uhr zusperren und sollte weniger als zwölf Wochen beziehungsweise eigentlich weniger als fünf Wochen geschlossen haben et cetera.
Österreichweit entsprechen im Durchschnitt weniger als 30 Prozent aller Kindergärten diesen Kriterien, in Wien sind es aber über 90 Prozent. Es gibt Bundesländer wie Tirol, Vorarlberg, Kärnten, wo der Halbtagesanteil, also der Anteil jener Kindergärten, die vor 12 oder 1 zusperren, jenseits der 15 Prozent liegt. Und von jenen, die ganztägig geöffnet haben, haben zum Beispiel in Vorarlberg 38 Prozent zu Mittag zu.
Frau Kollegin Leeb! Sie sagen, Sparen bedeutet an sich nicht, dass man sich irgendetwas nicht leistet. – Nun ja: Wenn das eh nicht so ist, dann würde ich einmal empfehlen, dass in allen Bundesländern, wo die ÖVP eine relevante Rolle einnimmt, zumindest die elementare Bildung einmal auf Stand gebracht wird! Es kann doch nicht sein, dass 38 Prozent der Kindergärten zum Beispiel in Vorarlberg zu Mittag geschlossen haben! Dann brauchen wir doch mit elementarer Bildung gar nicht anfangen! (Zwischenruf von GRin Ing Isabella Leeb.) Den Gemeinderat geht an, wie es in Wien ist! Darauf komme ich gerne zurück.
Ich mache noch zwei weitere Gründe fest, warum das Bildungssystem in Österreich so himmelschreiend ungerecht ist, nämlich auch deswegen, weil es so viele Zäsuren im Bildungssystem gibt. Es gibt in ganz Europa zwei Länder, in denen die erste Bildungszäsur, das heißt, die erste Entscheidung, was man weiter tun will, im Alter von zehn Jahren vorgenommen wird. In ganz Europa gibt es nur zwei Länder, in denen das so ist! Bei der Vielzahl aller Länder wird die erste Bildungsentscheidung erst mit 16 getroffen. Das kann
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