Gemeinderat,
42. Sitzung vom 19.12.2008, Wörtliches Protokoll - Seite 30 von 115
bei 5,6 Prozent liegt,
möchte ich feststellen, dass die Zeiten der Hochkonjunktur fürs Erste vorbei
sind. Das wissen wir. Wie geht es nun aber weiter? Die Sozialdemokraten haben
in ihren heutigen Wortmeldungen nicht einmal annähernd irgendwelche wirklichen
Sichtweisen eröffnet, wie hier eine Veränderung möglich ist. Wir wurden nur von
Gesprächsterminen und Absichtserklärungen informiert. Das ist nicht sehr viel!
Das Konjunkturpaket von 100
Millionen EUR ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Alle Millionenstädte in
Europa werden ein Vielfaches davon ausgeben. Es erhebt sich die Frage: Wann
kommt ein Nachtragsbudget für die Konjunkturbelebung in Wien? Wien braucht ein
wirksames Konjunkturpaket. Die SPÖ hat keines vorgelegt. Unseres liegt vor.
Bitte beachten Sie es!
Vorsitzende GRin Inge Zankl: Als Nächster zu Wort gelangt Herr GR Dipl-Ing
Margulies.
GR Dipl-Ing Martin Margulies (Grüner Klub im Rathaus): Sehr geehrte
Damen und Herren!
Ich erlaube mir, bevor ich tatsächlich auf die Wiener
Situation zu sprechen komme, noch einige einleitende allgemeine Bemerkungen, da
ich das Gefühl habe, dass viele von Ihnen immer noch nicht erkennen
beziehungsweise begreifen wollen, dass es sich hier und jetzt nicht um eine
temporäre Krisenerscheinung handelt.
Die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist keine
Zufallserscheinung. Sie ist auch nicht das Ergebnis von faulen Krediten,
Leerverkäufen und fallenden Grundstückspreisen. Wer dies behauptet, versucht
wirklich ganz bewusst, die Augen vor den realen Ursachen zu verschließen.
Es handelt sich tatsächlich um systemimmanente
Entwicklungen, und es war vollkommen klar, dass es bei einer kapitalistischen
Wirtschaftspolitik dieser neoliberalen Ausprägung der letzten 20 Jahre
wesentlich um die Frage geht, zu welchem Zeitpunkt die Krise ausbricht, jedoch
nicht um die Frage, ob überhaupt eine Krise ausbricht.
Es gibt viele theoretische Abhandlungen zum freien
Wettbewerb. Der freie Wettbewerb funktioniert im kleinräumigen Markt, so lange
er in einem beschränkten Rahmen abläuft und dabei tatsächlich von der
Gleichwertigkeit aller Beteiligten ausgegangen werden kann. Im Großen gibt es
jedoch Ungleichgewichte bei den einzelnen Marktteilnehmern, und zwar auf
Unternehmerseite zwischen den Unternehmern, und selbstverständlich gibt es auch
keine Möglichkeit der totalen Information der Kunden und Kundinnen. Diese Möglichkeit
gibt es nicht!
Schauen wir uns doch an, was mit dem freien
Wettbewerb in den letzten zwei Jahrzehnten geschehen ist, und zwar am Beispiel
großer Fusionen, am Beispiel eines Trends zur Oligopolen, am Beispiel sogar
eines Trends zu Monopolisierungen. Diejenigen, die wirklich darunter leiden,
sind die kleinen Zulieferbetriebe. Deshalb wirkt sich jetzt die
Wirtschaftskrise so aus. Die vielen kleinen Zulieferbetriebe der
Automobilindustrie und des Lebensmittelhandels waren schon lange ob der
Marktmacht von wenigen Großunternehmen gezwungen, zu immer günstigeren
Konditionen an andere Unternehmen zu liefern. So etwas nennt man
Gewinntransfer.
Ein Beispiel dafür ist „Ja natürlich!“ bei Billa und
Ähnliches bei anderen Marken. Wer sich damit beschäftigt, weiß, unter welchem
Druck die Biobauern in diesem Land in den letzten Jahren und Jahrzehnten
gestanden sind. Um das zu präzisieren, füge ich hinzu, dass der Bio-Boom vor
ungefähr 15 Jahren begonnen hat. Seit damals waren die marktbeherrschenden
Unternehmen im Lebensmittelhandel immer weniger bereit, tatsächlich
kostendeckende Preise zu bezahlen. Folglich waren viele kleine Biobauern
gezwungen, immer kostengünstiger zu produzieren. Das Ergebnis war, ich sage es
noch einmal, ein Gewinntransfer. Der Gewinn aus Arbeit, der normalerweise den
Kleinbauern und Biobauern zugestanden wäre, wurde an die Lebensmittelkonzerne
transferiert.
Ähnlich verhält es sich im Automobilbereich: Wir
erleben gerade im Automobilbereich, dass viele Klein- und Mittelbetriebe
mittlerweile oft von einem einzigen Großkonzern abhängig sind. Die Konsequenz
daraus? – Der Großkonzern kann es sich aussuchen und diktiert die Preise.
Auch in diesem Bereich fanden Gewinntransformationen statt. Das ist ein krankes
System! Diesbezüglich müssen wir tatsächlich danach trachten, etwas zu
verändern. Die aktuelle Krise ist nämlich vor allem das Ergebnis der
zunehmenden Verteilungsschieflage der letzten Jahrzehnte. Der freie Wettbewerb,
der freie Kapitalverkehr, globales Steuerdumping, Deregulierung sowie die
Vermarktlichung von immer mehr Dienstleistungen haben diese Entwicklung massiv
beschleunigt.
Dazu gekommen ist, dass der Neoliberalismus nicht nur
ein Wirtschaftssystem war. Dem Neoliberalismus ist es gelungen, kulturelle
Hegemonie zu erreichen. Das ganze Leben wurde Wettbewerb. Und ich sage Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn wir in diese Richtung weitermachen, dann
werden wir Schiffbruch erleiden, und zwar in einer Art und Weise, die jetzt
nicht vorstellbar ist.
Ich sage Ihnen das konkret, indem ich jetzt ein
Beispiel aus meiner Uni-Zeit bringe. Ich erzähle das irrsinnig gerne, weil ich
meine, dass das die Systemänderung gut beschreibt, und es gibt Menschen, die
das für richtig halten. Ich halte es für falsch. Als ich begann, Technische
Mathematik zu studieren, und auch noch nach zwei, drei Jahren sind wir nach den
Übungen zusammen gesessen, sind gemeinsam die Beispiele durchgegangen und haben
uns gegenseitig beim Lernen unterstützt. Das gibt es jetzt aber nicht mehr!
Mittlerweile muss man froh sein, wenn man einen Kollegen oder eine Kollegin an
der Uni findet, der oder die die Vorlesungsunterlagen herborgt, wenn man einmal
eine Vorlesung nicht besuchen kann. Es ist jetzt nämlich das ganze Leben ein
Wettbewerb um den Uni-Abschluss, denn nachher bekommt man die schönsten
Positionen.
Auch in der Volksschule wird einem
das schon eingebläut: Das muss man sich einmal vorstellen! Da heißt es: Ab der
2. oder 3. Klasse sind lauter Einser wichtig, sonst ist die Chance, dass du
in das Gymnasium kommst, in das du gehen willst, gering! Diese
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