Gemeinderat,
20. Sitzung vom 25.10.2002, Wörtliches Protokoll - Seite 22 von 106
Lesen zu fördern.
Jetzt können wir uns hier lang darüber unterhalten,
ob etwa der Wiener Gemeinderat hier Kompetenz hat. Ich hätte mir beispielsweise
erwartet, dass in diesem Zusammenhang vom Wiener Stadtschulrat Initiativen
ausgehen. Aber die Initiativen, die von dort ausgehen, sind durchaus anderer
Qualität.
Zum Beispiel darf ich Ihnen hier zwei Karterln zeigen.
(Der Redner hält zwei gelbe Kärtchen unterschiedlicher Größe in die Höhe.) Was
ist der Unterschied zwischen diesen beiden Kärtchen? Die Farbe ist dieselbe,
das Material ist dasselbe, aber - Sie werden es erkennen können - die Größe ist
unterschiedlich. Dieses Kärtchen hier (Der Redner hält das kleinere in die
Höhe.) hat fünf mal fünf Zentimeter und entspricht daher der vom Stadtschulrat
herausgegebenen Norm für offizielle Schummelzettel. Also, das ist die Größe
eines offiziellen Schummelzettels. Aufpassen, das ist ein zu groß geratener (Der
Redner hält das größere Kärtchen in die Höhe.), der ist nicht zugelassen,
der wäre zu groß. Das (noch einmal das kleinere Kärtchen zeigend) ist
die zugelassene Größe eines Schummelzettels.
Das findet sich tatsächlich in den Überlegungen des
Stadtschulrats über legalisiertes Schummeln. Da wird wirklich eifrigst darüber
nachgedacht, welche Größe ein Schummelzettel haben darf und wie er beschaffen
sein muss, damit man ordnungsgemäß schummeln kann.
Jetzt meine ich, ist das nicht so wirklich die Aufgabe
der Schulbehörde, das Schummeln auch noch zu normieren. Ich würde ja fast
meinen, es nimmt dem Schummeln den letzten Charme, wenn das jetzt auch noch von
der Bürokratie völlig geregelt und normiert wird, wie in Zukunft regelrecht
geschummelt werden kann mit einem Schummelzettel in der Größe von fünf mal fünf
Zentimeter. Also, aufpassen! Alles, was drüber hinausgeht, ist nicht erlaubt.
Das Verwenden einer Lupe ist übrigens auch nicht gestattet. Das steht auch
drinnen. Das nur für den praktischen Alltag. Und noch eine Einschränkung gibt
es: Es gilt nur für den Bereich der AHS. Also, die Pflichtschulen sind
ausgenommen, es gilt nur für den Bereich der AHS. Aber man wird schon wissen,
wieso man das so gemacht hat. Wenn man meint, dass das die größte didaktische
Revolution ist, seit, ich weiß nicht, Glöckl, Pestalozzi, Montessori oder
Bühler, dann meine ich, dass hier dem Lesen nicht sehr stark geholfen werden
wird.
Aber man soll hier in diesem Haus auch das Politische
nicht außer Acht lassen. Da kann ich Herrn Klubobmann Chorherr die Freude nicht
machen, das hier nicht auch zu beleuchten. Ich freue mich zwar, dass Sie das
hier zum Thema machen, und ich glaube, dass das Lesen auch einen etwas größeren
Rahmen wert wäre, als nur eine Aktuelle Stunde. Aber wenn sich ein Vertreter einer
politischen Gruppierung, die in den vergangenen Jahren nicht müde wurde, all
das, was mit schulischer Leistung zusammenhängt - und Lernen und Lesen lernen
nimmt Zeit in Anspruch und ist harte Arbeit, gerade auch für Kinder und Jugendliche,
die sich in einem sehr schwierigen, sehr anstrengenden persönlichen
Entwicklungsabschnitt befinden -, zu kritisieren, wenn sich also ein und dieselbe
politische Gruppierung hier herstellt, dankenswerterweise herstellt, und mehr
für das Lesen verlangt, aber in den vergangenen Jahren nicht müde wurde, all
das, was im Fächerkanon verankert ist, etwa im Bereich des Deutschunterrichts,
als Überbelastung der Schülerinnen und Schüler zu bezeichnen, und immer nur
dann Applaus laut wurde, wenn Stunden aus dem Fächerkanon gestrichen wurden -
womit in Wahrheit die Belastung der Schülerinnen und Schüler zugenommen hat,
weil der von vielen Lehrerinnen und Lehrern angestrebte Lehrstoff ja trotzdem
nicht weniger wurde -, so meine ich, man soll diese Zwiespältigkeit - und damit
ist das immer noch freundlich formuliert - in der politischen Haltung durchaus
auch einmal beleuchten. Wenn das heute eine neue pädagogische Ausrichtung der Grünen war, soll es mich freuen. Es
kann dem Bildungswesen nur gut tun. (GR Mag Christoph Chorherr: Sie haben
nichts verstanden! Aber überhaupt nichts! - GR Dipl Ing Martin Margulies:
Rohrstaberlmethode!)
Vorsitzender GR Günther Reiter: Als
nächste Rednerin hat sich Frau GRin Malyar zum Wort gemeldet. Ich erteile es
ihr.
GRin Martina Malyar (Sozialdemokratische
Fraktion des Wiener Landtags und Gemeinderats): So weit zum Punkt
Themaverfehlung und zu dem, wie man Lesen wahrscheinlich auch vergraulen kann.
Ich habe versucht, mich sehr intensiv mit der Fragestellung
auseinander zu setzen - nicht nur als Mutter von zwei lesefreudigen Kindern,
sondern natürlich auch von meinem erlernten Beruf als Lehrerin her -, und ich
habe mir sechs Konsequenzen für die Wiener Politik überlegt. Zugegebenermaßen
war das Ganze sehr, sehr schwierig, weil ich fast auf ähnliche Schlüsse wie
Sie, Herr Kollege Chorherr, gekommen bin, nämlich dass zu einem Teil
klarerweise die Politik Hausaufgaben zu machen hat, aber nicht nur diese
isoliert, sondern Lesen ist einfach eine gesellschaftspolitische
Herausforderung, eine gesellschaftspolitische Arbeit, und jeder muss seinen,
jede muss ihren Beitrag dazu leisten, um von den - jetzt wieder in Relation
gesehen - schlechten Zahlen einfach wieder zu besseren Zahlen zu kommen.
Es nützt nichts, dass wir uns überlegen, es könnte
noch schlechter sein, wenn wir nach Deutschland schauen oder in andere
europäische Länder, sondern wir sagen ja immer, dass wir uns die Latte
wesentlich höher legen, und da gibt es garantiert einen Nachholbedarf. Das ist
mir sehr, sehr wichtig, weil Lesen eine wichtige Kulturtechnik ist. Lesen ist
eine Schlüsselqualifikation. Wenn du nicht lesen kannst, bist du eigentlich vom
gesellschaftlichen Leben in der Informationsgesellschaft überhaupt an den Rand
gestellt und ausgeschlossen.
Nicht zuletzt ist es auch so - und dazu stehe ich
auch -, dass Politik und Leben überhaupt sehr lustbetont sein sollen. Lesen hat
ja nicht nur mit Leistung, mit Strenge und Rohrstaberl zu tun, sondern Lesen
hat unheimlich viel mit Lust zu tun. Gerade dieses Verlocken der Menschen zum
Lesen soll daher auch diesen lustbetonten Effekt haben.
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