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Gemeinderat, 1. Sitzung vom 27.4.2001, Wörtliches Protokoll  -  Seite 19 von 65

 

zu gelten hat.

 

Gehen wir grundsätzlich davon aus, dass jeder nach bestem Wissen und Gewissen versucht, die Arbeit im Interesse der Wienerinnen und Wiener auch zu leisten. Und ich sage das deswegen, weil in dieser kommenden Arbeitsperiode große Herausforderungen, große Aufgaben, große Chancen und möglicherweise auch große Probleme auf uns zukommen.

 

Sehen wir die nächsten fünf Jahre für uns - als Wiener, als Österreicher, als Europäer - von zwei wesentlichen Leitbegriffen bestimmt: von Auftrag und von Chance. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird innerhalb dieser fünf Jahre eine Gruppe von mittel- und osteuropäischen Ländern in die Europäische Union aufgenommen oder rückt jedenfalls in die Nähe der Aufnahme in die Europäische Union. Es erfüllt sich damit eine Phase europäischer Politik, an deren Anfang die für uns alle bewegenden Momente des Jahres 1989 standen, als hier - von Österreich aus gesehen - die ersten Löcher in den Stacheldraht des Eisernen Vorhangs geschnitten wurden; als am 9. November - von vielen für eine Falschmeldung gehalten - die Kunde von der Öffnung der Berliner Mauer um die Welt ging, als uns die Bilder der ungläubigen Freude und des vielhunderttausendfachen Jubels aus der geteilten Stadt erreichten. Dieser Tag vor beinahe zwölf Jahren markiert den Anfangspunkt für das wohl wichtigste und vitalste Zukunftsprojekt Europas: Die Erweiterung, die Finalisierung der Europäischen Union.

 

Die Finalisierung des gemeinsamen europäischen Hauses eröffnet Wien eine Reihe hervorragender Chancen: Welche andere Hauptstadt eines heutigen Mitgliedslandes der Union befindet sich in so enger räumlicher Nachbarschaft zu den wirtschaftlichen Kernräumen der künftigen Unionsmitglieder? Welche andere Hauptstadt eines EU-Landes kann über so enge kulturelle, aber auch wirtschaftliche Verbindungen bereits jetzt aufbauen? Welche andere Hauptstadt EU-Europas hat über die noch bestehenden Grenzen hinweg einen derart starken und stabilen Ruf als Stadt des Dialogs, der politischen Verständigung, des Miteinander?

 

Politisches Gestalten heißt auch, Verpflichtungen zu erkennen und danach zu handeln. Eine politische Verpflichtung dieser nächsten fünf Jahre ist mir besonders wichtig. Wien hat sich, wie auch die Republik Österreich, den dunklen Kapiteln seiner Vergangenheit in Tat und Wort zu stellen. Die Einsetzung eines Wiener Beauftragten für Restitution ist ein weiteres Bekenntnis dieser Stadt zu ihrer Geschichte, eine Mahnung zum "Nie wieder!"

 

Die noch offenen Fragen der Restitution - vieles ist ja bereits spät, aber doch auf einen guten Weg gebracht worden - dulden keine Verschleppung, keinen Aufschub mehr. Daher wird Wien unter Federführung seines Beauftragten die noch nicht abgeschlossenen Causen unverzüglich in Angriff nehmen. Wir wollen in Übereinstimmung mit der Bundesregierung, an deren Entschädigungsleistungen für NS-Zwangsarbeiter sich Wien mit einem hohen Betrag beteiligt hat, auch in der Rückstellung von Eigentum eine Vorreiterrolle erwirken. Österreich, das sich jahrelang als erstes Opfer des Nationalsozialismus dargestellt hat, hat aus seiner tatsächlich aktiven Beteiligung an den Verbrechen dieses Regimes die Verpflichtung, sofort und rasch zu handeln. Wo "Wiedergutmachung" auf Grund der Unumkehrbarkeit und der unfassbaren Dimension der Verbrechen ohnehin undenkbar ist, kann es über die simple Rückerstattung in Eigentumsfragen keine Diskussion geben. Es ist dies unsere Verpflichtung, die es umzusetzen gilt.

 

Als Zweites ist uns die Verpflichtung auferlegt, kommenden Generationen alles Wissen über die größte Unfassbarkeit der Menschheit, die Schoah, zur Verfügung zu stellen. Mehr als den Elterngenerationen vor uns, ist uns die Verantwortung für dieses "Nie wieder!" in die Hände gelegt worden. Unserer Generation ist es auferlegt, dieses Gesamtbild der Geschichte zu rekonstruieren. Das "Nie wieder!" wendet sich sowohl an die Vergangenheit als auch an die Zukunft. Denn ohne Wissen um die Vergangenheit, bleibt es eine hohle Phrase. Ohne Ausrichtung auf die Zukunft - auf künftige Generationen, auf unsere Kinder und Kindeskinder - verliert es seine Intention. Daher wird es eine der vornehmsten Aufgaben des Beauftragten für Restitutionsfragen sein, die Einrichtung eines Hauses der Geschichte, das sich vor allem mit der Aufarbeitung der finstersten Epoche in der Geschichte Europas beschäftigt, vorzubereiten. Es soll dies ein Haus sein, das von Wien aus mithilft, die wahrscheinlich wichtigste Forderung der Menschheit zu erfüllen: Dass Auschwitz nicht mehr möglich wird.

 

Europas Erweiterung ist gerade für uns Österreicher und Wiener von besonderer Bedeutung. Es ist das mit Abstand wichtigste politische Projekt dieses neuen Jahrhunderts. Es ist die logische Fortentwicklung jener europäischen Nachkriegsvision, die auf einen dauerhaften Frieden zwischen Europas Staaten und Menschen abzielte. Ein Friedensmodell, das nur durch die Verschränkung der nationalen Wirtschaftsräume denkbar ist. Ein Friedensmodell, von dem keine europäische Nation - also auch kein Staat Osteuropas, aber auch a là longue gesehen kein Staat des Balkans - auszuschließen sein wird. Diesen europäischen Auftrag, der als Lehre aus dem Leid und den Trümmern zweier Weltkriege entstand, wird Wien im Rahmen seiner Wirkungsmöglichkeiten uneingeschränkt unterstützen. Wien bekennt sich zu diesem Zukunftsprojekt.

 

Diese Aufgabe verlangt Mut und Gestaltungswillen von uns, denn nur die politische und wirtschaftliche Einbindung der Mittel- und Osteuropäischen Länder in die Strukturen der Europäischen Union kann stabile und gerechte soziale Verhältnisse in Europa schaffen, die demokratische Entwicklung fortsetzen, eine künftige europäische Zweiklassengesellschaft verhindern und damit umfassend Sicherheit und Frieden in Europa

 

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