7.2 „Lebensqualität ist ein Amalgam aus vielen verschiedenen Faktoren“
Wojciech Czaja im Gespräch mit Johannes Gielge
Was ist Lebensqualität? Und wie misst man sie? Ein objektiv zufriedenstellendes und subjektiv beglückendes Gespräch mit dem Wiener Soziologen und Stadtforscher Johannes Gielge.
Woran denken Sie persönlich beim Thema Lebensqualität?
Gielge: Lebensqualität bedeutet für mich, mir keine Sorgen machen zu müssen. Doch genau das ist derzeit eine große Herausforderung, denn aktuelle Entwicklungen und Geschehnisse wie der Klimawandel, wie die globalpolitischen Spannungen oder die gesellschaftliche Ungleichheit in Frankreich, wo die Gelbwesten auf die Straßen gehen, geben einem etliche Gründe zur Sorge. Wobei ich dazu sagen muss: Die Sorge hat auch eine wichtige Funktion im Leben.
Welche denn?
Gielge: Vorsicht, Vorsorge, produktives Gegensteuern.
Und was versteht man in der Forschung als Lebensqualität?
Gielge: In der Soziologie verstehen wir darunter sowohl messbare Formen von Lebensstandard – dazu zählen materieller Wohlstand, Bildung, Gesundheit – als auch immaterielle Aspekte wie sozialen Status, Erfüllung des Berufs, Selbstverwirklichung, Zugang zu Freizeit- und Naturerlebnissen und so weiter. Die tatsächliche Lebensqualität jedoch ist immer ein Amalgam aus objektiven, messbaren Daten einerseits und subjektiven, kaum messbaren Faktoren andererseits.
Welche Aspekte sind denn besonders wichtig? Gibt es eine Priorisierung?
Gielge: Für uns sind natürlich jene Aspekte wichtig, auf die die Stadtverwaltung einen Einfluss haben kann. Das beinhaltet die Frage der Daseinsvorsorge, die Wohnzufriedenheit und eine gute Versorgung mit Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Eine große Rolle spielen außerdem das Mobilitätsangebot, die Infrastruktur des täglichen Lebens sowie die Arbeitssituation. Für diese ist auch die Wettbewerbsfähigkeit der Wiener Wirtschaft ein nicht unwesentlicher Faktor – auch wenn das der einzelne Mensch nicht direkt wahrnehmen kann.
Das bringt mich zur nächsten Frage: International belegt Wien seit einigen Jahren Platz 1 in der Mercer-Studie, die in erster Linie die Bedürfnisse der sogenannten Expatriots abbildet. In welchen Punkten unterscheidet sich die Lebensqualität eines Expats von jener eines Wieners, einer Wienerin?
Gielge: Der hauptsächliche Unterschied besteht darin, dass Expats eine sehr kleine, selektive Untergruppe mit ganz besonderen Merkmalen sind. Und diese Gruppe entspricht bei Weitem nicht dem Durchschnitt der Wiener Bevölkerung. So gesehen ist die Mercer-Studie wenig repräsentativ für die Lebensqualität der Wienerinnen und Wiener. Trotzdem würde ich sagen: Wenn die Lebensqualität für die einen so außerordentlich hoch ist, dann wird sie für die anderen ebenfalls vergleichbar überdurchschnittlich sein.
Wie misst man Lebensqualität und Lebenszufriedenheit?
Gielge: Es gibt keinen objektiven Maßstab und somit auch keine absolut messbare Größe. Es gibt nur die relative Größe – den Vergleich.
Das heißt?
Gielge: Aufschlussreich für die Lebensqualität eines Ortes ist der Vergleich zwischen Zeitpunkten, zwischen Stadtteilen und zwischen Bevölkerungsgruppen.
Sehr oft wird Lebensqualität mit positiven Aspekten wie etwa Grünraum, Infrastruktur und Freizeitangebot in Verbindung gebracht. Welche Rolle spielen denn negativ konnotierte Begriffe wie etwa Armut, Krankheit, Behinderung, Arbeitslosigkeit und Pflege im hohen Alter?
Gielge: Das sind wichtige Faktoren! Die persönlichen Lebensumstände beeinflussen als Hintergrundfaktoren auch die subjektive Zufriedenheit mit diversen städtischen Angeboten. Deshalb werden sie selbstverständlich miterhoben. In sogenannten multivariaten Analysen können wir zwischen verschiedenen Teilzufriedenheiten Querbezüge herstellen und aufzeigen.
Im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Lebensqualitätsstudien führen Sie regelmäßig Befragungen in der Wiener Bevölkerung durch. Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Gielge: Gute Frage, schwierige Antwort! Früher haben wir uns noch leichter getan, denn es gab Telefonbücher und Festnetzanschlüsse. Da konnten wir mit Cold-Calls und Zufallsnummern arbeiten. Das geht heute nicht mehr, weil wir nicht wissen, ob die Person, die wir kontaktieren, in Wien lebt oder nicht. Außerdem sind Jugendliche sowie Menschen mit Migrationshintergrund oder niedrigem Ausbildungsstand selten bereit, ein Telefoninterview zu geben. Um eine repräsentative Auswahl von ihnen zu erreichen, bieten wir nun auch Online-Befragungen an.
Wie hoch ist die Anzahl der Befragten?
Gielge: In der Regel befragen wir mindestens 8.000 Menschen aus unterschiedlichen Wohngegenden und Lebenshintergründen. Wir führen auch fremdsprachige Interviews auf Serbokroatisch und Türkisch. Bei der letzten Befragung haben wir insgesamt 8.450 Menschen erreicht.
Im Werkstattbericht 157 haben Sie die Lebensqualität in insgesamt 91 Wiener Bezirksteilen gemessen. Welche sozialen, politischen und geografischen Tendenzen lassen sich dabei feststellen?
Gielge: Auffallend ist erstens, dass in einem Drittel aller 91 Bezirksteile die Zufriedenheit mit dem Wohngebiet zwischen 2008 und 2013 deutlich zugenommen hat und die Verbesserung insgesamt ziemlich viele Bezirke umfasst – darunter auch solche mit relativ niedrigem Ausgangswert. Leichte Verschlechterungen gab es nur in jenen fünf Untersuchungsgebieten, wo die Zufriedenheit bislang ohnedies überdurchschnittlich hoch war. Die Differenzen zwischen den am besten und den am schlechtesten bewerteten Gebieten nehmen also ab, was grundsätzlich ein gutes Zeichen ist.
Worauf führen Sie das gute Resultat zurück?
Gielge: Seit der Lebensqualitätsstudie 2003 ist Wien um rund 300.000 Einwohner gewachsen. All diese Leute zu versorgen – mit zusätzlichen Wohnungen, Schulen, Mobilitäts- und Freizeitangeboten –, erfordert große Anstrengungen und Investitionen. Ich kann daraus schließen, dass diese Aufgabe gut gelungen ist.
Eine häufig gehörte Befürchtung im Kontext von Aufwertung von Quartieren und steigender Lebensqualität lautet Gentrification. Welche Rolle spielt die Gentrifizierung in Wien?
Gielge: Die Sanierung der Gründerzeithäuser führt natürlich zu einer Aufwertung, die ja erwünscht ist, doch das würde ich noch nicht als Gentrifizierung bezeichnen. Entscheidend ist, dass die Aufwertung in Wien ziemlich flächendeckend erfolgt ist und nicht nur einzelne Gebiete betrifft, wie wir anhand der Bezirksteile gesehen haben. Die Disparitäten wurden also eher abgebaut als verschärft. Ein Instrument, dies zu erreichen, ist die baulich und sozial treffsichere Förderung von Sanierungen und Aufwertungsmaßnahmen im öffentlichen Raum.
Sie haben vorhin die relative Größe – den Vergleich – angesprochen. Wird in den Lebensqualitätsstudien Wien auch mit anderen Städten verglichen?
Gielge: Es gibt den sogenannten Urban Audit der EU, bei dem 2015 in Wien und weiteren 78 europäischen Städten dieselben Fragen gestellt wurden. Bei den meisten nimmt Wien einen Spitzenplatz ein. Es ist aber fast unmöglich, bei allen Fragen gut abzuschneiden. Zwei Fragen, die fast immer zu sehr unterschiedlichen Antworten führen, lauten: Ist es einfach, in dieser Stadt einen Job zu finden? Und ist es einfach, eine gute Wohnung zu einem vernünftigen Preis zu finden?
Welche Städte führen die Statistik an?
Gielge: München und Athen liegen an den beiden Enden der Skala. In München geben 76 Prozent der Befragten an, dass man leicht einen guten Job finden kann, aber nur drei Prozent tun sich bei der Wohnungssuche leicht. In Athen ist es umgekehrt: Nur elf Prozent finden leicht einen guten Job, während 67 Prozent leicht zu einer guten, leistbaren Wohnung kommen. In Rom und Lissabon ist übrigens beides schwierig. Interessant jedoch ist, dass es keine einzige Stadt gibt, in der man sowohl bei der Wohnung als auch beim Job leicht fündig wird.
Wo liegt Wien?
Gielge: In der goldenen Mitte: 52 Prozent finden leicht einen Job, 20 Prozent leicht eine Wohnung.
Gibt es Aspekte der Lebensqualität, die sich im Laufe der Zeit verändern?
Gielge: Ja, in jeder neuen Befragungswelle werden neue Aspekte erhoben. Zuletzt waren dies die Lebensstil-Typologie sowie die Nutzung digitaler Angebote. Letzteres wird in den kommenden Jahren mit Sicherheit weiterhin zunehmen.
Ein persönliches Lieblingsindiz für Lebensqualität?
Gielge: Die Werbekampagnen der MA 48 mit ihren witzigen Müll-Sujets und die augenzwinkernde Werbung der Wiener Linien in den letzten Jahren regen mich zum Schmunzeln an. Solche Freiheiten und Frechheiten sind ein Zeichen für Offenheit und Toleranz, und auch das ist für mich ein wesentlicher Bestandteil der Lebensqualität. Rücksicht ist wichtig, keine Frage, aber ob eine restriktive Kultur mit Essensverboten in U-Bahnen und Alkoholverboten auf öffentlichen Plätzen der Lebensqualität förderlich ist, erscheint mir nicht eindeutig.
Wenn nicht Wien, was dann?
Gielge: Ich kenne etliche Städte ganz gut. Ich kann mir daher durchaus vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben – aber nicht, weil es anderswo besser wäre. Die Lebensqualität in Wien ist tatsächlich schwer zu überbieten.
Johannes Gielge,
geboren 1956 in Bad Aussee, studierte in Wien, Graz, Paris und Zürich Pädagogik, Philosophie, Soziologie, Raumplanung und Bautechnik. Seit 1984 war er zunächst in der Bauindustrie und in Planungsbüros tätig, u. a. in Oslo und Bern. Seit 1991 ist er Mitarbeiter der Wiener Stadtentwicklung und Stadtplanung, seit 2003 Leiter des Referats Stadtforschung und in dieser Funktion für die Wiener Lebensqualitätsstudien 2003, 2008, 2013 und 2018 verantwortlich.