5.1 Von der Stadtbahn zum Silberpfeil
Der Wiener U-Bahn-Bau blickt auf eine lange Geschichte zurück. Von der ersten Metro-Idee zweier Briten bis zur Einweihung des ersten Silberpfeils zogen beachtliche 92 Jahre ins Land. Heute ist das U-Bahn-Netz ein zentraler Motor der Stadtplanung. Eine Reise durch die Zeit.
Johann Hödl
Die Planung von Schnellverkehrsanlagen im städtischen Bereich gehört wohl zu den schwierigsten Aufgaben, die Stadtplaner und Architektinnen zu lösen haben. Während fehlgeplante Häuser schnell abgerissen, unnötige Straßenbahngleise kurzfristig umgelegt und öffentliche Busse über Nacht umgeleitet werden können, prägen U-Bahn, Schnellbahn und Eisenbahnkorridore die Strukturen und Entwicklungsmöglichkeiten einer Stadt oft über Jahrhunderte. Aufgrund der zeitlich und finanziell extrem aufwändigen Herstellung sind international kaum Beispiele bekannt, wo Schnellverkehrstrassen aufgrund von Fehlplanung oder veränderten Verkehrsbedingungen abgetragen werden mussten. Oder, wie der Wiener beim Schnapsen sagt: „Wos liegt, des pickt.“
Bei dieser Nachhaltigkeit von Eisenbahntrassen wundert es nicht, dass die Stadtbahn-Frage im Wien des 19. und 20. Jahrhunderts zu langen, meist ergebnislosen Diskussionen führte. Zudem war die Frage dadurch noch erschwert, dass in der wirtschaftsliberalen Ära bis 1895 fast ausschließlich private Investoren und Firmenkonsortien als Errichter und Betreiber von Verkehrsanlagen fungierten. Für ihre nach rein profitorientierten Gesichtspunkten geplanten Linien benötigten sie von der Hoheitsverwaltung lediglich die entsprechenden Konzessionen. Ob Fiaker, Tramway, Omnibus oder Eisenbahn: Der öffentliche Verkehr war damals – was rückwirkend überraschen mag – eine regelrechte Cashcow in überwiegend privater Hand, deren Dividenden die Anleger und Aktionäre immer weiter zu steigern trachteten.
Die Auswüchse solch liberaler Wirtschafts- und Verkehrspolitik sind bekannt: Vernachlässigung unprofitabler Strecken, minimalste Erhaltungsaufwändungen, überfüllte Züge, unterbezahltes Personal sowie zum Teil erpresserisches Drängen nach staatlicher Unterstützung. Allein schon aus militärischen, überregionalen Gründen konnte die Staatsverwaltung diesem Treiben nicht länger zusehen und begann daher, die wenig profitablen Eisenbahnstrecken zwischen 1880 und 1884 mit großzügigen Kaufsummen zu verstaatlichen und in diesem Zuge die k. k. Staatsbahnen, einen Vorläufer der heutigen ÖBB, zu gründen.
Wien durfte nicht London werden
Davon unberührt landeten die Pläne von Joseph Fogerty und James Clarke Bunten – zweier englischer Ingenieure und Investoren aus dem Nahbereich der Londoner Metropolitan- Gesellschaft, die 1881 der Stadt Wien anboten, kostenlos ein umfangreiches, zusammenhängendes Stadtbahnnetz zu realisieren – in der Schublade. Der Grund: Die entlang von Gürtel, Wiental und Donaukanal geplanten Hochstrecken auf Stahlträgern animierte aufgebrachte Ensembleschützer und Stadtbildästheten zu erbittertem Widerstand. Das Projekt erstickte im Keim.
1889 kam es in Wien zu einem aufsehenerregenden Streik der Tramway-Kutscher gegen die unsozialen Arbeitsbedingungen in der von Aktionären rigoros geführten Tramway-Gesellschaft, die die Habsburger nur mit Säbelhieben und Kavallerieattacken zu bändigen wussten. Während der Sozialdemokrat Victor Adler für seine Unterstützung der Streikenden ins Gefängnis musste, konnte der christlich-soziale Karl Lueger aus den unhaltbaren Arbeitsbedingungen der Tramwayer politisches Kapital schlagen und bestritt 1895 als Wiener Bürgermeister den Weg der Kommunalisierung der Energieversorgung und der Verkehrsunternehmen. 1903 wurden die Straßenbahn und in Folge auch die Omnibus-Linien in die Obhut der Stadtverwaltung übernommen.
Schon bald wurde klar, dass Wien dringend ein kreuzungsunabhängiges Schnellverkehrsmittel benötigte, wie dies schon seit der Weltausstellung 1873 seit gut 30 Jahren immer wieder diskutiert und zerredet wurde – und wie dies von Fogerty und Bunten bereits zwei Jahrzehnte zuvor vergeblich aufs Tapet gebracht wurde. Dank einem kaiserlichen Machtwort nahm das Vorhaben nun endlich Gestalt an. Die Stadt Wien, das Land Niederösterreich und die Staatsverwaltung gründeten zur Abwicklung des Projekts eine gemeinsame „Kommission für Verkehrsanlagen“, wobei der Staat mit 87,5 Prozent der Kosten den Löwenanteil beisteuerte. Entsprechend den Usancen bei der Planung von Eisenbahnen, sich an Flüssen und Tälern zu orientieren, wurde die Stadtbahntrasse entlang von Wiental und Donaukanal sowie entlang des Gürtels angelegt. Mit einer Gesamtlänge von 38 Kilometern und 32 Stationen gab es nun eine dreifache Verbindung zwischen Hütteldorf und Heiligenstadt.
Stadtbahn oder Spinnennetz?
Dass im spinnennetzartigen angelegten Wien die Verkehrsströme vom Stadtzentrum in die Vorstädte und Vororte aus historischen Gründen stets über große Radialstraßen führten, schien bei der Planung der 1901 eröffneten Stadtbahn übersehen worden zu sein. Kein Wunder also, dass die Wiener das neue Schnellverbindungsnetz schon bald als „Um-die-Stadt-Bahn“ bezeichneten. Innenstadt und Stephansplatz wurden von ihr in großen Schlaufen umfahren. Hinzu kommt, dass im Gegensatz zur massiv ausgebauten und vom Pferdebetrieb sukzessive auf Strom umgestellten Tramway – zur nunmehrigen Elektrischen – die dampfende und rauchende Stadtbahn mit ihrem antiquierten Dampfbetrieb und ihren steilen Zutrittsstufen in die Waggons wie aus einem anderen Jahrhundert gewirkt haben muss. Da es darüber hinaus zwischen Straßenbahn und Stadtbahn keinen Tarifverbund gab, entpuppte sich Letztere schon bald als veritabler wirtschaftlicher Flop.
Der Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert kann als Beginn des U-Bahn-Zeitalters bezeichnet werden (die ab 1863 errichtete Londoner „Tube“ ist ein weltweit verkehrshistorischer Sonderfall). Viele Millionenstädte wie etwa Paris, Berlin, Budapest, New York oder Boston begannen, U-Bahn-Linien mit elektrischem Antrieb zu errichten. Die Frage einer Elektrifizierung und Erweiterung der dampfbetriebenen Wiener Stadtbahn beschäftigte die Verkehrsplaner daher noch über einen längeren Zeitraum. Vor allem der U-Bahn-Experte und spätere Wiener Baudirektor Franz Musil erarbeitete sehr konkrete U-Bahn-Netzplanungen. Knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges fanden diesbezüglich noch konkrete Gespräche mit französischen Banken und Baukonsortien statt.
U-Bahn-Pläne für die Perle des Ostens
Mit Ende des Ersten Weltkrieges musste die Stadtbahn aufgrund des Kohlemangels komplett eingestellt werden. Mit Ausnahme der Vorortelinie, der heutigen S45, wurde die Stadtbahn in Folge ins Eigentum der Stadt übernommen, elektrifiziert und in den Tarifverbund mit Straßenbahn und Bus eingegliedert. Für eine Erweiterung des Netzes jedoch reichten die Mittel bei Weitem nicht aus. Erst mit der Machtübernahme Hitler-Deutschlands in Österreich kamen wieder große U-Bahn-Baupläne zum Vorschein. Für die „Perle des Ostens“ mit ihren geplanten vier Millionen Einwohnern wollte man ein adäquates U-Bahn-Netz errichten. Nach den ersten Probebohrungen jedoch bereiteten die Kriegsereignisse den U-Bahn-Ideen ein rasches Ende.
Relativ rasch konnte sich Wien von der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges erholen und vom bald einsetzenden deutschen Wirtschaftswunder profitieren. In den 1950er-Jahren wollte Wien seine Internationalität unter Beweis stellen und sich als Metropole an der Schnittstelle zwischen Ost und West positionieren. Dazu zählen etwa die Bewerbungen für die Olympischen Sommerspiele 1964 und für die Weltausstellung 1966. An den finanziellen Mittel für einen U-Bahn-Bau dürfte es nicht gefehlt haben – jedoch an der nötigen Expertise. Und so wurde als Stadt- und Verkehrsplaner ein externer Experte bestellt. Von 1948 bis 1952 war dies der Architekt Karl Heinrich Brunner, dessen massiver Einsatz für den Bau einer U-Bahn jedoch auf taube Ohren stieß. Bürgermeister Franz Jonas, ab 1951 im Amt, war dem U-Bahn-Bau gegenüber äußerst skeptisch eingestellt und beschloss, Brunners Vertrag auslaufen zu lassen. Damit waren die Pläne ein weiteres Mal zu Grabe getragen.
Von nun an machte sich die ÖVP-Fraktion für einen U-Bahn-Ausbau stark. Damit wurde die U-Bahn-Frage mehr und mehr zum Politikum. Statt einer eigenen Untergrundbahn begnügte man sich in den Folgejahren mit punktuellen baulichen Maßnahmen wie etwa etlichen Ringstraßenpassagen für die Fußgänger oder Straßenunterführungen für den Autoverkehr am Südtiroler Platz und Matzleinsdorfer Platz. Zur Erstellung eines „Generalverkehrsplanes“ und zur Beendigung des ewigen Hin und Her wurde 1958 nun endlich der (seit dem Abgang Brunners jahrelang verwaiste) Posten eines Wiener Stadtplaners besetzt, und zwar mit niemandem Geringeren als mit Roland Rainer. Die mit Ende der 1950er-Jahre massiv einsetzende Motorisierungswelle sowie extremer Personalmangel bei den Verkehrsbetrieben machte klare Entscheidungen und moderne Lösungsansätze im öffentlichen Verkehr dringend notwendig.
Keine Einschienen-Bahn für Wien
Allein, die in Rainers Ära fallenden Maßnahmen waren äußerst dürftig, da Rainer den U-Bahn-Bau strikt ablehnte. Ihm schwebte eine polyzentrische Stadtstruktur zur verkehrsmäßigen Entlastung der Inneren Stadt vor. U-Bahn- Stationen in der City, meinte er, würden dies durch ihren Verdichtungseffekt konterkarieren. Nachdem sich das zwischen 1958 und 1961 intensiv geplante und kontroversiell diskutierte Einschienen-Verkehrsmodell der sogenannten Alweg-Bahn als zu wenig durchdacht erwies, setze Rainer auf die Unterpflasterstraßenbahn (USTRAB). Der Bau begann 1963 auf der Zweierlinie sowie im Bereich der Wiedner Hauptstraße und des Gürtels. Der Fachbeirat kritisierte die Maßnahmen als fragwürdig und wenig visionär. Mit der Stadtregulierungsabteilung MA 18 im Rathaus kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Konflikte führten 1962 zur Beendigung der Tätigkeit Roland Rainers als Stadtplaner.
In Folge wurde die MA 18 mit Roland Rainers Stadtplanungsgruppe fusioniert und dessen Mitarbeiter Georg Conditt zum Leiter ernannt. Gemeinsam mit seinem Stellvertreter Otto Engelberger setzte dieser den alles entscheidenden Schritt: Sie beauftragten Edwin Engel vom Institut für Eisenbahnwesen an der TU Wien, die Sache wissenschaftlich zu betrachten und anhand von computerunterstützten Verkehrsmodellrechnungen eine Prognose für die Zukunft zu erstellen. Die Ergebnisse, Anfang 1965 präsentiert, waren eindeutig: Wien braucht eine U-Bahn.
Der fliegende Silberpfeil
Von da an ging es Schlag auf Schlag. Bereits im September 1965 wurden auf einer Klubtagung der sozialistischen Gemeinderäte in Steyr die politischen Weichen für den Wiener U-Bahn-Bau gestellt. Im Jahr darauf beschloss die gemeinderätliche Stadtplanungskommission eine Empfehlung zum Bau eines U-Bahn-Netzes. Am 26. Jänner 1968 stimmte der Wiener Gemeinderat in einem Grundsatzbeschluss dem U-Bahn-Bau zu. Am 3. November 1969 begannen am Karlsplatz die Bauarbeiten. Berühmtes Bild im Wiener-U-Bahn-Bau: Am 18. August 1973 wird der erste Silberpfeil-Waggon fürs Publikum mit einem Kran in den Schacht gehievt.
Heute, fast 50 Jahre später, verfügt Wien über ein U-Bahn-Netz von 84 Kilometern Länge und 109 Stationen, wobei die historischen Stadtbahnlinien mit ihren Otto-Wagner-Haltestellen Teil dieses U-Bahn-Netzes wurden. Über neun Milliarden Euro an Investitionen waren dafür notwendig. Traditionell werden die Kosten zwischen Bund und Land Wien aufgeteilt. Dieses alle Wiener Bezirke umspannende U-Bahn-Netz ist ein Hauptgrund für die bestehende hohe Lebensqualität in Wien, die von internationalen Studien immer wieder bestätigt wird. Wien ohne U-Bahn ist heute nicht mehr vorstellbar. Mit den weiteren Ausbauschritten der U-Bahn in den nächsten Jahrzehnten rüstet sich die Stadt in punkto Mobilität, Infrastruktur und Umweltqualität für die künftigen Herausforderungen.
Zu Beginn war die U-Bahn-Planungseuphorie am größten: Netzentwurf von 1972
Wiens U-Bahn-Netz der Zukunft
Johann Hödl,
geboren 1955 in Korneuburg, startete 1975 seine Berufstätigkeit beim Magistrat der Stadt Wien. 1992 wurde er Leiter der Stabsstelle für Budget, Kredit- und Rechnungswesen für den U-Bahn-Neubau. 2002 wurde er Leiter der Abteilung für Kaufmännische Dienste und Controlling bei den Wiener Linien. Er war u. a. zuständig für Kunstprojekte in den U-Bahn-Stationen und betreute Arbeiten von Margot Pilz, Ingeborg Strobl, Peter Kogler, Heimo Zobernig, Oswald Oberhuber etc. Er ist Beiratsmitglied im Verkehrsmuseum Remise und verfasste bereits einige Bücher zum U-Bahn-Bau und zur Wiener Verkehrsgeschichte.