4.1 Wien, Monsieur Hulot und die Charta von Athen
Die Moderne hat die westliche Stadt geprägt wie keine andere urbane Bewegung im 20. Jahrhundert. Bis heute arbeiten wir daran, die Fehler zu kaschieren und die einst hochgelobten Funktionstrennungen zwischen Wohnen, Arbeiten, Bewegen und Erholen wieder aufzuheben. Ein Blick in die Zukunft einer bausteindurchmischten Polis.
Wojciech Czaja
Die Bilder sind in die Kinogeschichte eingegangen: Monsieur Hulot durch lange Korridore stolpernd, Monsieur Hulot verloren zwischen grauen Hochhausschluchten nach einem Bild des kleinen, vertrauten Maßstabs Ausschau haltend, und dann, in der 40. Minute schließlich, Monsieur Hulot in einem rundum verglasten Reisebüro, verwirrt um sich blickend, umzingelt von den immergleichen Plakaten, von den immergleichen Stadtkulissen von London, Stockholm, Mexiko, Tokio und Hawaii. So amüsant das hier skizzierte Bild einer dystopischen Stadtzukunft auch sein mag, so traurig und verhängnisvoll spiegelt sich Jacques Tatis Großstadt-Satire Playtime, 1967 in den Kinos angelaufen, in der Realität wider.
Die Pariser Banlieue, das neue Brasília nach Plänen von Lúcio Costa und Oscar Niemeyer, das wiederaufgebaute Nachkriegsdeutschland sowie eine ganze Reihe an nordamerikanischen Städten, die den Prototyp einer modernen, suburbanisierten Großstadt verkörpern: Viele städtebauliche Konzepte der Nachkriegsmoderne folgen genau diesem Prinzip einer internationalisierten, austauschbar gewordenen Stadt mit standardisierten Fassaden, standardisierten Gebäudetypologien und standardisierten Wege- und Verkehrsstrukturen, die in einem deutlichen Widerspruch zur europäischen Stadtkultur stehen, wie sie etwa der Wiener Architekt und Stadtplaner Camillo Sitte in seinem Buch Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889) prägte. Vor allem aber zeichnen sich die einst utopischen Konzepte der Moderne durch eine klare Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten, Bewegen und Erholen aus.
Die Gründe für diese vielfach realisierten Playtime-Städte liegen nicht nur in neuen Materialien und Bautechnologien, nicht nur im Glauben an eine bessere, gesündere Lebensqualität durch räumliche Trennung von wohnwerten Zonen und produzierendem Gewerbe und nicht nur in der Emanzipation des Automobils als Sinnbild eines individuellen, vom Kollektiv vollkommen losgelösten Mobilitätsversprechens – sondern auch in einem folgeschweren städtebaulichen Manifest, das 1933 auf Initiative des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) verfasst und zehn Jahre später von Le Corbusier unter dem Titel Die funktionale Stadt veröffentlicht wurde.
Ein leider nachhaltiges Regelwerk
„Die sogenannte Charta von Athen ist eine Reaktion auf die oft schlechten Lebensbedingungen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in vielen industrialisierten Städten vorherrschten“, sagt der Schweizer Architektur- und Stadthistoriker Vittorio Magnano Lampugnani, ehemals Professor an der ETH Zürich, der zuletzt den fünf Kilogramm schweren Atlas zum Städtebau (mit Harald R. Stühlinger und Markus Tubbesing) herausbrachte. „Die handelnden Personen waren davon überzeugt, mit diesem Regelwerk einen hochwertigen Beitrag für die urbane Zukunft zu leisten. Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich herausgestellt, dass die Moderne fatale Auswirkungen auf den globalen Städtebau hatte und dass sie die historisch gewachsene, traditionell durchmischte Stadt in ihren Grundfesten massiv erschüttert hat.“ Fußnoten
Bedenkt man heute, wie rasch sich politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Rahmenbedingungen ändern können – etwa durch den Fall des Eisernen Vorhangs 1989, durch den EU-Beitritt Österreichs 1995, durch ein neues gesellschaftliches Verständnis von Lebensstil und Lebensgestaltung sowie durch die aktuellen Wechselwirkungen mit Klimakrise und Digitalisierung –, ist es im Rückblick betrachtet verwunderlich, wie nachhaltig sich die in der Charta von Athen ausgehandelten Punkte in den westlichen Industrieländern niedergeschlagen haben. Der Genius der vielfach kritisierten Charta überlebte nicht nur einen siebenjährigen Weltkrieg, sondern prägte den europäischen und nordamerikanischen Städtebau bis in die Siebziger- und Achtzigerjahre wie keine andere urbane Geisteshaltung der späten Moderne des 20. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der Charta manifestieren sich nicht nur im Jahrzehnte langen Siegeszug des Automobils, sondern auch in einem nach Daseins-Grundfunktionen getrennten Städtebau, der im Gegensatz zur sozialen und multifunktionalen Durchmischung der historisch gewachsenen Stadt und der selbst in der Gründerzeit massiv veränderten und überformten mitteleuropäischen Stadtkörper plötzlich eine räumliche und atmosphärische Hierarchie in die Polis implementiert, die bislang bestenfalls der Religion vorbehalten war.
Die männliche Nachkriegsstadt
„In den Fünfzigerjahren wurde ein Wirtschaftsmodell inszeniert und rechtlich untermauert, das die Kleinfamilie ins Zentrum stellte und eine klare Arbeitsteilung für das Paar vorsah“, sagt Meike Spitzner, Verkehrsforscherin am Wuppertal Institut, die sich seit langer Zeit mit nachhaltigen und geschlechtergerechten Perspektiven in der Verkehrs- und Stadtplanung beschäftigt. Dass sich Mann und Frau auf unterschiedliche Weise durch die Stadt bewegen, hat für sie mit dominanten Bildern von Männlichkeit sowie mit einer ungleichmäßigen Verteilung von Mobilitätschancen zu tun. „Die autoorientierte Stadt- und Verkehrsplanung führt zu räumlicher Diskriminierung, Zeitenteignung, Verstärkung struktureller Gewalt und psychischer Herabwürdigung.“ Fußnoten
Im funktionalen Fokus der Stadtplanung und Stadtentwicklung im Global North der letzten Jahrzehnte stand stets der männliche Ernährer, der der Erwerbsarbeit nachging und Zugang zum öffentlichen Raum bekam, wohingegen das unmittelbare, im Sinne der Charta von Athen räumlich und atmosphärisch vom Rest der Stadt entkoppelte Wohnumfeld der Mutter und Hausfrau zugewiesen war. So gesehen, stellt die deutsche Journalistin Vanessa Vu in ihrem Artikel Die männliche Stadt in der Wochenzeitung Die Zeit folgerichtig fest, sei die Stadt der Moderne eine vordergründig maskulin geprägte Struktur: „So kam, könnte man sagen, die männliche Autostadt in die Welt.“ Fußnoten
Die Konsequenzen davon sind enorm. Zwar bauen wir heute keine Wohn- und Satellitenstädte mehr, zwar spielen wir schon lange nicht mehr mit dem Gedanken, den Wiener Gürtel zu einer innerstädtischen Autobahn auszubauen, und auch die aktuelle Diskussion rund um nachhaltige, resiliente und klimaneutrale Städte hat einen durchaus positiven Effekt darauf, wie wir Stadt und urbane Gesellschaft und Mobilität heute denken – dennoch töten wir immer noch unbeirrbar Ortskerne, Stadtteilzentren und innerstädtische B-Lagen, indem wir Gewerbe und Handel an den Stadtrand und in den Speckgürtel verbannen und auf diese Weise eine vermeidbare individuelle Mobilität anspornen, als ob es kein Morgen gäbe.
Die drei D-Zauberworte
„Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Besiedelungs- und Regionalpolitik mehr oder weniger in Ordnung, doch in den letzten 50, 60 Jahren ist uns die Kontrolle darüber verloren gegangen, und wir haben unsere Städte ziemlich rasch kaputt gemacht“, sagt Vittorio Magnano Lampugnani. „Jetzt müssen wir sie langsam wieder in Ordnung bringen. Bis heute arbeiten wir intensiv daran, die in der Charta von Athen beschlossene Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten, Mobilität und Freizeit wieder aufzuheben und die dadurch entstandenen Wunden und Brüche in den Städten wieder zu schließen.“ Fußnoten
Die drei D-Zauberworte für die Zukunft, so Lampugnani, lauteten Dichte, Durchmischung und Dezentralisierung. „Das sind die drei Regeln, die durch die zehn Jahrtausende, seitdem es Stadt gibt, konstant geblieben sind. Wir werden nicht umhin kommen, diesen Regeln in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu schenken als in der jüngeren Vergangenheit, wo viele Fehlplanungen passiert sind. Zersiedelung werden wir uns in Zukunft nicht mehr leisten können.“ Fußnoten
Die Wiener Fachkonzepte zu den Themen Mobilität, Grün- und Freiraum, Produktive Stadt und Polyzentrale Stadt, die die MA 18 in den letzten Monaten und Jahren als Ergänzung zum STEP 2025 herausgegeben hat, sind ein wichtiger Schritt, um die Fehler der Moderne und der Charta von Athen wiedergutzumachen. Es geht um eine Renaissance der historischen, gründerzeitlichen Stadt, es geht um eine kleine Portion Camillo Sitte im großen Kosmos Stadt.
Die vielleicht größte Herausforderung besteht darin, die Chancen und Problematiken zwar getrennt voneinander zu analysieren und zu verstehen, sie letztendlich aber als flexibles, amorphes und maximal multifunktionales Flechtwerk ins Stadtgebilde hineinzuweben. Möge Monsieur Hulot in Zukunft weniger verloren zwischen den Häusern umherirren und entsprechend leichter die Gegenwart wiederfinden.
Fußnoten
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- In: Vanessa Vu: Die männliche Stadt, in: Zeit Online, zeit.de, 26. September 2019.
- Ebd.
- Wojciech Czaja: Die Stadt ist kaputtgefahren, Interview mit Vittorio Magnano Lampugnani, in: Der Standard, 19. Mai 2012.
- Ebd.