Schrägluftfotografie der Donau City
2. Die Stadt als wachsender Organismus

2.6 „Paris orientiert sich am Wiener Modell“

Wojciech Czaja im Gespräch mit Dietmar Feichtinger

Portrait von Dietmar Feichtinger

Wojciech Czaja im Gespräch mit Dietmar Feichtinger „Paris orientiert sich am Wiener Modell“ Der in Paris lebende österreichische Architekt Dietmar Feichtinger hat schon so manches Projekt in Wien geplant. Wir haben ihn um einen Vergleich zwischen den beiden Hauptstädten gebeten und erfahren, wo Wien eindeutig die Nase vorn hat – und wo etwas mehr Mut und Risiko angebracht wären.

Seit rund 30 Jahren leben und arbeiten Sie in Paris. Welches Image hat Wien aus der Ferne?

Feichtinger: Der Großraum Paris ist ein dichter, riesiger Ballungsraum mit zehn Millionen Einwohnern und enormen Distanzen. Die Menschen hier sind schnell und hektisch, auf den Straßen dominiert ein lebendiger, hoch pulsierender Stresslevel, der der Stadt natürlich auch ihr einzigartiges Flair verleiht. Wien ist im Vergleich dazu deutlich langsamer und entspannter – und wirkt, ehrlich gesagt, manchmal auch etwas gebremst. Wenn man so wie ich seit vielen Jahren in Paris lebt, denkt man an Wien vor allem als Freizeit- und Erholungsstadt. Man kann mit der Straßenbahn ins Grüne fahren, mit dem Bus auf die Hausberge hinauf und mit der U-Bahn ans Wasser, wo man quasi mitten in der Stadt ins Wasser springen kann. Diese Lebensqualität ist einzigartig.

Das gibt es in Paris nicht?

Feichtinger: Nicht in der Form! Man verbringt eine Stunde in öffentlichen Verkehrsmitteln, und wenn man aussteigt, ist man immer noch mitten in der Stadt. Dann heißt sie womöglich nicht mehr Paris, sondern Montreuil, Saint-Denis oder Vitrysur-Seine, aber von Natur weit und breit keine Spur. Die Pariser Naherholungsgebiete konzentrieren sich auf den Bois de Vincennes im Osten und den Bois de Boulogne im Westen. Lebensqualität ist in Wien einfacher zu erreichen. Und sie ist erschwinglicher und somit auch demokratischer.

Was hat das für Konsequenzen?

Feichtinger: Dramatische! Die Durchschnittszeit, die eine Familie mit zwei bis drei Kindern in Paris verbringt beziehungsweise aushält, beträgt rund zehn Jahre. Die meisten ziehen aus, weil sie sich das Leben nicht leisten können oder die Hektik nicht aushalten. Das ist in Wien definitiv anders.

Bis jetzt klingt das nach einem Sieg für Wien. Wo hat Paris die Nase vorn?

Feichtinger: Die Dichte an kulturellen Angeboten in Paris ist atemberaubend – im wahrsten Sinne des Wortes! Ich habe selten eine so hohe Qualität und Quantität auf einmal gesehen wie hier. Das hängt natürlich mit der Größe der Stadt zusammen, vor allem aber auch mit der Mentalität und „Art de vivre“. Da ist Wien zwar schon sehr gut, kann aber noch einiges dazulernen!

Siegerprojekt Schrödingerplatz in Kagran: Masterplan beim städtebaulichen Wettbewerb

Seit 2002 haben Sie in Wien eine eigene Niederlassung. Was ist der Grund dafür?

Feichtinger: Wir machen immer wieder Projekte in Österreich, etwa Wohnbau, Bürogebäude und Infrastrukturbauten. In der Wettbewerbsphase lässt sich das leicht aus der Ferne bewerkstelligen, aber sobald man in der Detailplanung und Umsetzung ist, muss man vor Ort sein. Daher haben wir beschlossen, hier ein Büro zu gründen.

Wien befindet sich derzeit in einer massiven Wachstumsphase und hat nun begonnen, innerstädtische und periphere Brachen zu bebauen und bestehende Areale nachzuverdichten. Wie empfinden Sie die Architektur- und Städtebaukultur in Wien im Vergleich zu anderen Städten?

Feichtinger: Die Stadtverdichtungsgebiete wie etwa Eurogate, Nordbahnhof und Sonnwendviertel liegen zentral und sind durch die öffentlichen Verkehrsmittel sehr gut eingebunden. Die Art und Weise, wie diese Areale bebaut werden, würde ich so umschreiben: Sie funktionieren, soweit ich das beurteilen kann, recht gut und bieten ohne jeden Zweifel eine hohe Lebensqualität. Ich denke da nur an die Bebauungsdichte und die öffentlichen Freiräume.

Aber?

Feichtinger: Architektonisch wirken diese Stadtverdichtungsgebiete ziemlich zurückhaltend. Da würde ich mir manchmal etwas mehr Mut und Risiko wünschen.

Sie haben jetzt die zentral gelegenen Neubaugebiete angesprochen. Was ist mit der Seestadt Aspern?

Feichtinger: Da bin ich skeptisch. Die U-Bahn-Anbindung ist zwar gut, trotzdem habe ich das Gefühl, dass man aus den Fehlern der Satellitenstädte des 20. Jahrhunderts und den „Villes nouvelles“ am Rande der französischen Städte nicht gelernt hat. Auch hier fehlt mir der Anspruch an architektonischen Mut, vor allem aber an einen größeren Mix zwischen Wohnen und öffentlichen, kulturellen Einrichtungen. Eine Stadt aus dem Boden zu stampfen ohne Anbindung an Geschichte und Identität, das ist keine leichte Aufgabe. Umso wichtiger ist hier der Fokus auf öffentliche Qualität.

Was wird in Wien richtig gemacht?

Feichtinger: Die Bauträger-Wettbewerbe sind eine gute und qualitativ konsistente Idee. Auch im Bereich sozialer Nachhaltigkeit ist Wien international ein Vorbild. Ich denke da nur an neue Wohnmodelle, an radikale und bis heute einzigartige Projekte wie die Sargfabrik, aber auch an die Miteinbeziehung von sozialen und ökologischen Trends wie etwa Urban Gardening und Partizipation. In dieser Hinsicht dient Wien für die Pariser Stadtregierung als Vorbild.

Inwiefern?

Feichtinger: Man orientiert sich am Wiener Modell, was Mitbestimmung, Quartiersbefragungen und ganz generell die Gebietsbetreuung betrifft. In Clichy-Batignolles, dem größten und wichtigsten Stadtverdichtungsgebiet von Paris, findet man die Wiener Seele in vielen Details wieder. Während der Planungs- und Entwicklungszeit gab es eine starke Zusammenarbeit zwischen Bertrand Delanoë und Michael Häupl.

2008 haben Sie an einem städtebaulichen Wettbewerb für den Schrödingerplatz in Kagran teilgenommen und gewonnen. Was waren die wichtigsten Kriterien Ihres Entwurfs?

Feichtinger: Es gab bereits ein Einkaufszentrum, eine U-Bahn-Station und sehr viele Menschen, die hier wohnen. Beim Wettbewerb ging es darum, den Ort zu ordnen und neu zu qualifizieren. Wir haben in unserem Bearbeitungsgebiet Hochhäuser vorgesehen und die bis dahin lose Stadtstruktur nachverdichtet. Ziel war, jenseits der Donau ein lebendiges Subzentrum mit hochwertigen Außenräumen zu schaffen.

Wie zufrieden sind Sie mit der Umsetzung des Projekts?

Feichtinger: Ich hätte mir natürlich gewünscht, eine Tranche des Baugebiets zur Planung und Realisierung zu bekommen. Das war leider nicht der Fall.

nicht realisierter Entwurf der neuen ÖBB-Zentrale am Wiener Hauptbahnhof

Was Wien und Paris in den letzten Jahren verbindet, ist das Thema Verkehrsberuhigung. Wer macht’s besser?

Feichtinger: Beide Städte machen es. Das ist schon mal ein großer Gewinn! Ich persönlich erachte die zum Teil sehr radikalen Verkehrsberuhigungen als den richtigen Weg. In der Pariser Bevölkerung jedoch werden die Maßnahmen zum Teil sehr kontroversiell diskutiert. Auf der Rue Saint-Antoine und Rue de Rivoli wurde eine fünf bis sechs Meter breite Fahrradspur angelegt, auf der man nun zwischen Bastille und Place de la Concorde neben einer Auto- und einer Busspur bequem mit dem Rad fahren kann, während alle anderen im Stau stehen. Auf sieben der großen Sternplätze wie etwa Place de la République wurden Autos verdrängt und haben so Platz gemacht für Menschen und öffentliche Nutzungen wie beispielsweise Märkte und Konzerte. Und am Seine-Ufer wurden große Abschnitte vom Verkehr befreit und zu Parks und Freizeitbereichen ausgebaut. Sogar Tunnels und Unterführungen wurden stillgelegt.

Was sagen die Menschen dazu?

Feichtinger: Manche lieben es, manche hassen es. Die Kommunalwahlen 2020 werden zeigen, von welcher Fraktion es mehr Anhänger gibt. Die Frage ist, ob eine einzige politische Legislaturperiode genügt, um den Leuten auch die Anstrengungen solcher Maßnahmen klar und verständlich zu machen.

Und wie empfinden Sie Wien im Vergleich dazu?

Feichtinger: Ich würde es so ausdrücken: In Paris wird vieles autoritär entschieden. Damit macht man sich nicht immer beliebt. Nachhaltige Entscheidungen und Beliebtheit gehen eben nicht immer Hand in Hand. In Wien wird im Gegensatz dazu alles jahrelang abgewogen, diskutiert und mit der Bevölkerung entschieden. Da geht viel Energie verloren.

Was muss Wien auch in Zukunft auf jeden Fall beibehalten?

Feichtinger: Dass sich die Leute in der Stadt das Wohnen leisten können. Dass die Stadt nicht nur für die Alten und Alteingesessenen benutz- und bewohnbar ist, sondern auch für die Jungen und mäßig Verdienenden, die in Paris mehr und mehr an die Peripherie gedrängt werden. Dieser soziale Mix ist extrem wichtig.

Haben Sie einen Wunsch für die Zukunft?

Feichtinger: Ja! Ich habe seit drei Jahren nun erstmals eine kleine Wohnung in Wien. Ich wünsche mir, dass ich öfter die Zeit dazu finde, in Paris eine kleine Pause einzulegen, um für ein paar Tage nach Wien zu fliegen und die Gemütlichkeit und Geborgenheit dieser Stadt zu genießen.

Dietmar Feichtinger,

geboren 1961 in Bruck an der Mur, studierte Architektur an der TU Graz und gründete 1994 sein Pariser Büro Dietmar Feichtinger Architectes. Zu seinen Projekten zählen das Kunsthaus Weiz (2005), die Donau-Universität Krems (2005), die Passerelle Simone-de-Beauvoir über die Seine (2006), das Klinikum Klagenfurt (2010), das Passivwohnhaus Eurogate in Wien (2012), die Universität für Geisteswissenschaften in Aix-en-Provence (2013) sowie die neue Brücke zum Mont-Saint-Michel (2014), die für den von der EU vergebenen Mies van der Rohe Award nominiert war. Erst kürzlich wurde die gläserne Einzäunung des Eiffelturms fertiggestellt.