1.3 Zwischen Beharrung und Umbruch
Das Wien des 20. Jahrhunderts zeichnet sich durch viele gestaltgebende Widersprüche aus: Große Katastrophen, kaiserlicher Nachhall, Eiserner Vorhang, Moderne und Postmoderne, monofunktionale Großprojekte und nicht zuletzt eine zunehmend differenzierte Einbeziehung von Mitsprache und Partizipation tragen zur allmählichen Entwicklung und Verwandlung dieser Stadt bei.
Erich Raith
Kaiser Franz Joseph I. wurde 1830 im Schloss Schönbrunn geboren und ist 1916 ebenda gestorben. Wenn man das Wien seines Geburtsjahres mit dem seines Sterbejahres vergleicht, wird einem bewusst, welch unglaublich „Große Transformation“ Fußnoten hier in der Zeitspanne eines einzigen Menschenlebens stattgefunden hatte. Scheinbar alles hatte sich in dieser Epoche grundlegend verändert – die Dimension der Stadt, ihre baulich-räumlichen Strukturen, ihre visuellen Stadtbilder, doch der wahrscheinlich größte Wandel betrifft das städtische Leben.
Mit dem Ersten Weltkrieg fand diese radikale Transformation ihr Ende. Der Blick auf die Entwicklung Wiens zeigt, dass aber nicht nur politische Katastrophen dafür verantwortlich waren. Vielmehr galt der gründerzeitliche Stadtumbau mit seinen dahinter stehenden Programmen gegen Ende der 1910er-Jahre als weitestgehend abgeschlossen. Dazu zählen beispielsweise die Schleifung der Stadtbefestigungen, die Bebauung des Glacis, die Regulierung der Wiener Fließgewässer, die Herstellung der Hochquellwasserleitungen, die Implementierung eines Stadtbahnnetzes, die Errichtung öffentlicher Großbauten wie etwa Spitäler, Schulen, Kasernen, Verwaltungsbauten und Friedhöfe sowie etliche raumgreifende Stadterweiterungen ins Umland. Die Resultate dieser Transformation bilden für Wien bis heute eine tragfähige stadt- und infrastrukturelle Basis. Lediglich das monumentale Kaiserforum blieb ein städtebauliches Fragment und ein vielsagendes Symbol für den Niedergang der Monarchie.
Katastrophen und ihre Bewältigung
Nach dem Ersten Weltkrieg stellte sich die Situation völlig anders dar. Im Wien der Zwischenkriegszeit befasste man sich nicht mit grandiosen Stadtvisionen, sondern hatte unter schwierigen Bedingungen die grundlegende Lebensfähigkeit der Stadt zu erhalten. Aus historischer Distanz betrachtet erscheinen die städtebaulichen Ambitionen des „Roten Wien“ alles andere als revolutionär. Man hat kontinuierlich an der bürgerlichen Stadt weitergebaut und ihre Baulücken harmonisch geschlossen. Auch dem Block als städtebaulicher Grundfigur ist man treu geblieben – selbst wenn man ihn in Richtung „Superblock“ weiterentwickelt und die solchermaßen gewonnenen Hofräume als neuartige halböffentliche Gemeinschaftsräume ausgewiesen hat. Als schwaches Echo klangen immer wieder die alten imperialen Themen durch, etwa wenn Großwohnhausanlagen als „Volkswohnungspaläste“ bezeichnet wurden oder wenn der Gürtel von der Kommunalpolitik als „Ringstraße des Proletariats“ inszeniert wurde.
Erst die Stadtplaner des Nationalsozialismus wandten sich wieder mit Begeisterung den monumentalen Raumfiguren des Systems Ringstraße und den Visionen eines exorbitanten „Groß-Wien“ zu. Außer sechs Flak-Türmen blieb von all diesen in der Nazi-Zeit geschmiedeten Plänen wenig übrig. Das eigentliche Resultat waren Tod und Zerstörung in Folge des Zweiten Weltkriegs. Und so stand Wien nach 1945 vor den Herausforderungen des Wiederaufbaus. Hier lassen sich zwei Entwicklungslinien feststellen:
Einerseits wurde im baulichen, insbesondere im gründerzeitlichen Bestand eine Strategie der Stadtreparatur verfolgt, die einen Kompromiss zwischen Bewahrung vertrauter Stadtbilder und angemessener Modernisierung anstrebte. Andererseits folgte man in den – im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen quantitativ bescheidenen – Stadterweiterungsgebieten „modernen“ Leitbildern, wie sie etwa von Johannes Göderitz, Hubert Hoffmann und Roland Rainer in ihrem 1957 erschienen Buch Die gegliederte und aufgelockerte Stadt beschrieben worden waren.
Der Architekt Roland Rainer, der von 1958 bis 1963 oberster Stadtplaner von Wien war, gilt als leidenschaftlicher Vordenker und Propagandist dieser städtebaulichen Haltung, die ihren Niederschlag nicht nur in einem 1962 veröffentlichten Planungskonzept Wien fand, sondern auch in der Umsetzungspraxis dieser Jahre. Diese Haltung übernahm einige sehr unterschiedliche Denkschulen (von der Gartenstadtbewegung des späten 19. Jahrhunderts bis zu nationalsozialistischen Städtebau-Konzepten), die über alle Ideologien hinweg jedoch eines gemeinsam hatten – und zwar die bis zur radikalen Ablehnung gehende Skepsis gegenüber der alten, dichten, steinernen Stadt mit ihrem typischen gebäude- und raumtypologischen Repertoire und ihren charakteristischen Systemeigenschaften.
Die beiden titelgebenden Zielvorstellungen „Gliederung“ und „Auflockerung“ standen hier für die strikte räumliche Trennung von Nutzungen und sozialen Milieus, also für den Abbau von Komplexität und Dichte – und letztendlich auch für den Abbau von Urbanität. Das Wunschbild der autogerechten Stadt war eine zwingende Konsequenz daraus. Durch die bereits 1933 verfasste Charta von Athen mit ihrem Appell für eine strikte räumliche Separierung der Daseins-Grundfunktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr bekam diese ideengeschichtliche Entwicklung nach dem Krieg einen zusätzlichen Schub.
Abstandsgrün und andere Phänomene der Moderne
Aufgrund der veränderten geopolitischen Lage hatte Wien in der Nachkriegszeit nicht den gleichen Entwicklungsdruck wie andere europäische Metropolen, in denen in großem Umfang dezentrale Trabantenstädte entstanden, die den funktionalistischen Planungsleitbildern der Moderne entsprachen. Als eines der bis heute prägenden Wiener Musterbeispiele gilt etwa die Großfeldsiedlung im 21. Bezirk, die zwischen 1966 und 1973 als kommunales Großwohnbauprojekt für über 20.000 Einwohner realisiert wurde und die bis zu 17-geschossige Wohnbauten mit entsprechendem Abstandsgrün aufweist.
Charakteristisch für diese Phase der Stadtentwicklung ist jedenfalls, Städtebau als Planung und Umsetzung architektonischer Großprojekte auf möglichst großen und zusammenhängenden Bauarealen zu interpretieren, die oft die Handschrift eines einzigen Architekten aufweisen, wie zum Beispiel der Wohnpark Alterlaa (Planungsbeginn 1968), die Großwohnsiedlung Rennbahnweg (1974 bis 1977) oder die Großwohnhausanlage Am Schöpfwerk (1976 bis 1980). Den zeittypischen städtebaulichen Leitbildern entsprechend wurde 1970 auch der erste Abschnitt der Stadtautobahn eröffnet: die berühmte Südosttangente. Sogar im Bereich der Freiraumplanung prägten singuläre Großprojekte die Entwicklung, allen voran die WIG 64, die Wiener Internationale Gartenschau im Donaupark.
Selbst die Zusammenschau der großmaßstäblichen städtebaulichen Entwicklungen nach dem Krieg ergibt keine so grundlegende Transformation der Stadt, wie es der Stadtumbau des 19. Jahrhunderts gewesen war. Eher könnte man sie als Fortschreibungen, Aktualisierungen oder Nachbesserungen bereits laufender Entwicklungen charakterisieren. Es ist aber auch unübersehbar, dass im Laufe der Zeit verschiedene Entwicklungstendenzen als problematisch erkannt wurden und dass kritische Neubewertungen zu korrigierenden oder kompensierenden Gegenbewegungen geführt haben, die sich zu Beginn der 1970er-Jahre verdichteten und sich in vielfacher Hinsicht als richtungsweisend herausstellten.
Stakkato an Neuorientierungen
1972 veröffentlichte der Club of Rome den berühmten Bericht Die Grenzen des Wachstums. Kurz darauf folgte die erste Ölpreiskrise im Jahr 1973, die der industrialisierten Welt ihre Abhängigkeit von fossiler Energie unmittelbar vor Augen führte. Im österreichischen Kontext war die Volksabstimmung gegen das Kernkraftwerk Zwentendorf (1978) bewusstseinsbildend. Zunehmend begann man, auch die bestehenden baulich-räumlichen Strukturen als wertvolle Ressourcen zu interpretieren und entsprechend zu bewerten.
Wien war damals im Schatten des nahen Eisernen Vorhanges in einer untypischen Situation: Im Unterschied zu anderen europäischen Metropolen stagnierte die Stadtentwicklung, obwohl Wien keine notleidende Stadt mehr war und davon durchaus profitierte, dem goldenen kapitalistischen Westen anzugehören. Die Stadt nützte diese Situation konsequent für richtungsweisende Aktivitäten im Hinblick auf eine nachhaltige Verbesserung bestehender Stadtstrukturen.
1972 wurde in Wien eine Altstadterhaltungsnovelle beschlossen, die unabhängig vom Denkmalschutz die Möglichkeit der Ausweisung von Schutzzonen schuf. 1974 wurde die Kärntner Straße zur ersten Fußgängerzone Wiens umgestaltet. Im selben Jahr begann mit dem Stadterneuerungsgesetz auch die beeindruckende Erfolgsgeschichte der „Sanften Stadterneuerung“, die seit damals eine kontinuierliche Aufwertung besonders der gründerzeitlichen Stadtteile bewirkt und bislang der Stadt ein ausreichendes Maß an sozialer und funktioneller Komplexität bewahren konnte.
Die Entwicklung ist im Fluss
Ein weiteres epochales Projekt dieser Zeit war die Zweite Donauregulierung, die Wien eine Neue Donau und eine über 20 Kilometer lange Donauinsel bescherte, die trotz hoher Kosten nicht immobilienwirtschaftlich verwertet, sondern als grüner Erholungsraum gestaltet wurde. Durch dieses Projekt, das als rein technisches Hochwasserschutzprojekt angedacht worden war, erlebt Wien zur Zeit einen magischen Moment seiner Geschichte: Der Wiener Donauraum verliert nach und nach seinen seit der Gründung Vindobonas dominierenden Charakter, eine stark wirksame Barriere und Grenze zu sein, und entwickelt sich zu einer neuen, vitalen Stadtmitte, die als kontinentaler Transitraum weit über die Stadtgrenzen hinaus weist.
1977 erschien ein vielbeachtetes Buch, mit dem Charles Jencks den Begriff der Postmoderne auf Architektur und Städtebau übertrug und so diverse Tendenzen bekräftigte, die auf eine Neubewertung urbaner Bautraditionen abzielten: The Language of Postmodern Architecture. Das Leitbild der funktionalistischen, gegliederten und aufgelockerten Stadt wurde demnach erstaunlich rasch durch eines der kompakten, funktionell und sozial feinkörnig gemischten, mehrdeutigen und vielschichtigen „Stadt der kurzen Wege“ ersetzt. „Neue Urbanität“ wurde zu einem interdisziplinär vieldiskutierten Thema, das in weiterer Folge zur Frage führte, ob das Entstehen von Urbanität überhaupt über die etablierten Methoden und Instrumente hoheitlich agierender Planungsinstanzen erreichbar ist oder nicht. Spätestens das an einer Volksbefragung gescheiterte Projekt der EXPO 95 machte deutlich, dass Stadtplanung ohne die konstruktive Einbeziehung der Bevölkerung nicht mehr funktioniert.
Von der Monofunktionalität zur Balance
Die heute in diversen Stadtentwicklungs- und Strategieplänen sowie in zahlreichen Masterplänen und Fachkonzepten ausgewiesenen Zielorientierungen der Stadtentwicklung erweisen sich durchwegs als Weiterentwicklungen jener Ansätze, die seit den 1970er-Jahren zunehmend an Bedeutung und Tragfähigkeit gewonnen haben. Die Ausrichtung an Themen der Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz bekommt aktuell durch die Herausforderungen der Klimawandelanpassung ein zusätzliches Gewicht. Der integrierte Nationalpark Donau-Auen verweist auf Neuinterpretationen städtischer Ballungsräume sowie auf ein neues synergetisches Verhältnis zu allem, was als urbane Natur bezeichnet werden kann.
Eine reine Top-down-Stadtplanung ist längst von einem breiten Repertoire partizipativer Planungsmodelle abgelöst worden. Die Monofunktionalität von Stadträumen und Gebäudetypen erscheint – zumindest im theoretischen Diskurs, vielleicht noch nicht in jeder Alltagspraxis – überwunden. Die umstrittene Umgestaltung der Mariahilfer Straße zur Fußgänger- und Begegnungszone ist hier als das realisierte Schlüsselprojekt schlechthin zu nennen. Und dennoch: Die Entwicklung entsprechender gebäudetypologischer Programme sowie ihre quantitativ spürbare Umsetzung haben in dieser Hinsicht – speziell im Bereich des immer noch funktionalistisch gedeuteten Wohnbaus – einen dringenden Aktualisierungsbedarf.
Offensichtlich aber gelingt in Wien eine angemessene Balance zwischen Stadterneuerung, innerer Stadterweiterung und Stadtwachstum nach außen, durch die ein reichhaltiges Gefüge differenzierter urbaner Milieus entsteht. Darin mag einer der Gründe verborgen liegen, warum Wien schon seit Jahren in diversen Rankings als Stadt mit der weltweit höchsten Lebensqualität ausgewiesen wird. Auch wenn sie dafür sicher nicht alleinverantwortlich ist – ganz unschuldig wird die Wiener Stadtplanung an diesem Ergebnis wohl auch nicht sein.
Erich Raith,
geboren 1954 in Wien, studierte Architektur an der TU Wien, wo er auch von 1991 bis 2019 am Institut für Städtebau, Landschaftsarchitektur und Entwerfen in Lehre und Forschung tätig war. 1999 habilitierte er im Fach Stadt-und Siedlungsmorphologie. Seit 1989 arbeitet er als freischaffender Architekt in Wien. Sein Themenschwerpunkt ist nachhaltige Stadtentwicklung auf allen Maßstabsebenen. Er hat zahlreiche Projekt- und Arbeitsgemeinschaften, u. a. mit den Architekten Wolfgang Reinberg, Martin Treberspurg, Reinhardt Gallister, querkraft, nonconform und AllesWirdGut.
Fußnoten
Zurück zu Referenz- Nach Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur, München 1997. Das Zitat ist in Anlehnung an den vom ungarisch-österreichischen Wirtschaftssoziologen Karl Polanyi 1944 geprägten Begriff der „Great Transformation“ zu verstehen, mit dem dieser den durch die Industrialisierung bewirkten sozialen und wirtschaftlichen Umbruch westlicher Gesellschaften charakterisierte.