1.4 „Wir brauchen wieder Visionen und unverwechselbare Identitätsbilder“
Wojciech Czaja im Gespräch mit Hannes Swoboda
In den Jahren 1989 und 1995 war Wien Zentrum von geopolitischen Großereignissen. Welche Auswirkungen hatte dieser europäische Wandel auf die Stadtplanung? Hannes Swoboda, damals Planungsstadtrat von Wien, über Zaha Hadid, Ostblockbusse und die geplatzte Weltausstellung.
Von 1988 bis 1996 waren Sie Stadtrat für Stadtentwicklung, Stadtplanung und Verkehr, zuletzt auch für Außenbeziehungen der Stadt Wien. Fehlt Ihnen die urbane Materie manchmal?
Swoboda: Natürlich! Die Zeit als Planungsstadtrat habe ich als sehr inspirierend erlebt. Ich erinnere mich noch gut an das wirklich spannende Gefüge zwischen dem, was realisiert wird, und dem, was nicht realisiert wird.
Wie ist denn das Verhältnis zwischen dem Realisierten und Unrealisierten?
Swoboda: Im Großen und Ganzen sind die meisten Projekte tatsächlich Realität geworden. Wenn auch nicht immer in der intendierten Form.
Wie war Wien damals?
Swoboda: Als ich studiert habe, war Wien eine graue, depressive, manchmal auch gesichtslose Stadt, in der wenig Zukunft passiert ist. Doch das Gute ist, dass in so einer Situation Umbrüche sehr willkommen sind, ja regelrecht herbeigesehnt werden. Als ich 1988 Stadtrat geworden bin, gab es schon eine Vielzahl von Personen und Ansätzen, die sich darum bemüht haben, aus dieser grauen Hemisphäre auszubrechen.
Bei der Volkszählung 1981 hatte Wien mit 1,53 Millionen Einwohnern den Tiefststand des 20. Jahrhunderts. Bis Ende der Achtzigerjahre hat sich dieser Wert minimal erholt. Wie übernimmt man die Agenden für eine Stadt so einer Situation?
Swoboda: Das haben wir uns damals auch gefragt! Die Stagnation hat sich, wie Sie sich vorstellen können, in einer gewissen Ungeduld und Unzufriedenheit niedergeschlagen. Aber wir wussten bereits, dass Wien in den kommenden Jahren wachsen würde. Die demografischen Prognosen waren eindeutig. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989, nur ein Jahr nach meinem Amtsantritt, wurde das Zukunftsszenario aber um ein Vielfaches übertroffen.
Europa war komplett im Umbruch. Kann man in so einer Situation überhaupt noch von Stadtplanung sprechen? Oder eher von kommunalem Reagieren auf die Europapolitik?
Swoboda: Natürlich hat sich das Stadtbild in dieser Zeit kurzfristig massiv verändert. Ich erinnere mich noch gut an die vielen Busse aus dem Osten, die Tag für Tag Tausende Touristen zum Einkaufen nach Wien gebracht haben. Aber den Einfluss auf Stadtplanung und Stadtentwicklung würde ich in dieser Hinsicht nicht überbewerten. Wir waren durchaus in der Lage, gute mittel- und langfristige Planung zu machen.
Mit dem Zusammenwachsen zwischen Ost und West waren Wien und Bratislava plötzlich so nah wie schon lange nicht mehr. Manche sprechen auch heute noch von Twin-City.
Swoboda: Das ist Marketing. Das Zusammenwachsen von Wien und Bratislava zu einer Twin-City war damals eine Option. Diese Option wurde leider – und zwar von beiden Seiten – nicht wahrgenommen. Der Zug ist abgefahren.
Ein weiterer Umbruch war der EU-Beitritt Österreichs am 1. Jänner 1995. Welche Auswirkungen hatte diese politische Entwicklung auf Wien?
Swoboda: 1995 hatte weitaus weniger Auswirkungen als das Jahr 1989. Aber immerhin war es dank dem EU-Beitritt möglich, den Gürtelraum mithilfe von EU-Mitteln zu entwickeln. Wir konnten einige schöne Projekte realisieren. Trotzdem: Eigentlich ist es grotesk, dass unter den Gürtelbogen unter der U6, in diesem wunderbaren linearen Bauwerk in zentraler Lage, auch heute noch unattraktive und ungenutzte Lager dominieren. Da wäre mehr möglich.
Was ist Ihnen in Ihrer Zeit als Planungsstadtrat gut gelungen?
Swoboda: Oh, ich blicke auf einige Dinge mit gutem Gefühl zurück. Zwar ist es uns nur begrenzt gelungen, Wien als internationalen Wirtschaftsstandort zu etablieren, aber immerhin haben wir einige Unternehmen und Konzerne durch die hohe Lebensqualität nach Wien locken können. Ein weiterer Erfolg, würde ich sagen, ist das Schulbauprogramm 2000, mit dem wir viele spannende Projekte realisiert haben. Und im Wohnbau haben wir damals die widmungstechnischen Voraussetzungen für rund 10.000 neue Einheiten pro Jahr geschaffen.
In Ihre Amtszeit fällt auch die ins Leben gerufene und schließlich abgesagte EXPO in Wien und Budapest.
Swoboda: Mit der Weltausstellung wollten wir Wien international platzieren, weil klar war, dass wir im internationalen Wettbewerb mithalten müssen. Natürlich war das Nicht-Zustandekommen der Weltausstellung für uns alle eine gewisse Enttäuschung. Im Rückblick muss ich sagen: Ich habe das Resultat der Volksbefragung weniger wegen der verunmöglichten Expo bedauert – vielmehr aufgrund der mentalen Einstellung des Verschließens und Ablehnens, die dadurch sichtbar geworden ist. Ich bin ein Optimist: Das Gute daran ist, dass mit dem Nein ein großes Areal für städtebauliche Entwicklung frei geworden ist.
Für die Donauplatte ...
Swoboda: Bei der Umsetzung des Projekts hätte man aus heutiger Sicht mehr Fokus auf Ökologie und Nachhaltigkeit legen müssen. Fehler sind Teil jeder Stadtplanung. Fehler sind unvermeidlich.
Ein weiteres Projekt, für das Sie sich stark gemacht haben, war die Neugestaltung und Attraktivierung des Donaukanalufers. Im Rahmen des „Leitprojekts Donaukanal“ haben Sie damals Zaha Hadid nach Wien eingeladen. Warum gerade Hadid?
Swoboda: Als ich Planungsstadtrat geworden bin, waren in Wien einige Architekten beschäftigt, die sich nicht so sehr durch die baukünstlerische Qualität als vielmehr durch ihre guten Beziehungen ausgezeichnet haben. Das hat mich ehrlich gesagt etwas traurig gemacht, denn ich sehe Architekten als Kulturschaffende, die einen wertvollen Beitrag zur Stadt leisten können. Diesen damals fehlenden architektonischen Wettbewerb wollte ich gezielt fördern und etablieren – und dazu war auch ein bekannter internationaler Name eine wertvolle Geste. Hadid war eine gute, interessante Architektin, aber natürlich war die Einladung nach Wien auch ein bewusst gesetztes symbolisches Zeichen.
Sind Sie mit dem Resultat von Zaha Hadid zufrieden?
Swoboda: Nein, keineswegs, da braucht man sich nichts vorzumachen. Das Wohnprojekt von Zaha Hadid ist städtebaulich in die Hose gegangen. Es war als Impuls gedacht, der leider keine städtebaulichen Konsequenzen mit sich gezogen hat – jedenfalls nicht in dem Ausmaß, wie wir uns das vorgestellt hatten.
Was ist das Learning daraus?
Swoboda: Das Learning ist, dass Kompromisse manchmal nicht angebracht sind. Bei manchen Dingen muss man einfach härter und konsequenter sein.
Ist das in der Stadtplanung möglich?
Swoboda: Natürlich! Ich kann mich an heftige Auseinandersetzungen zwischen mir und einigen Kollegen auch aus der eigenen Fraktion erinnern, wobei der damalige Bürgermeister Helmut Zilk stets eine vermittelnde Rolle spielte. Vieles in der Politik – und auch in der Stadtplanungspolitik – hat mit Argumentation und Durchsetzungsvermögen zu tun.
Wurde Stadtplanung früher emotionaler betrieben als heute?
Swoboda: Ich will nicht verklären, aber ja, früher haben wir Politik mit Emotion betrieben. Das liegt auch an der Zeit. Vieles war damals im Umbruch. Man wollte einfach mehr, man hatte Visionen.
Und heute?
Swoboda: Heutzutage leidet die Stadtplanungspolitik unter dem fehlenden Wollen. Maria Vassilakou war als Planungsstadträtin eine manchmal polarisierende Figur, die Freunde und Feinde hatte. Aber auf jeden Fall hatte sie eine verkehrspolitische Vision, und dafür hat sie sich eingesetzt. Diesem Wollen verdanken wir, dass einige Straßen in Wien heute ganz anders aussehen als noch vor zwei Legislaturperioden.
Welches Wollen treibt Sie an?
Swoboda: Eine schwierige Frage. Die Stadt Wien ist wunderbar verwaltet und funktioniert in vielen Belangen einfach perfekt. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern Resultat langjähriger, nachhaltiger, kollektiver Arbeit. Aber wenn Sie mich fragen, was ich mir wünsche, dann kann ich nur sagen: Ich wünsche mir Visionen und einzigartige, unverwechselbare Identitätsbilder.
Zum Beispiel?
Swoboda: Ich habe unlängst mit Kolleginnen und Kollegen über die Rolle Wiens diskutiert, als es noch Hauptstadt eines mitteleuropäischen Reiches war. In vielen Städten in Ungarn, in Rumänien, in der Ukraine, in der Slowakei, in Bosnien und Herzegowina ist Wien bis zum heutigen Tag im Stadt spürbar. Man braucht nur einen Blick auf die Häuser, auf die Geschäftsportale, auf die Werbeschriftzüge zu werfen! Was ich im Gegenzug vermisse, ist eine ernsthafte Auseinandersetzung damit, inwiefern diese Kulturen, diese Städte – wie etwa Debrecen, Oradea, Braşov, Sibiu/Hermannstadt, Lwiw/Lemberg oder Sarajevo – das Wiener Stadtbild beeinflusst haben und auch heute noch mitprägen. Wo ist dieses Europa, wo ist dieses ehemalige Groß-Österreich in Wien spürbar? Das herauszufinden wäre wertvolle Identitätsarbeit an der Seele dieser Stadt. Aber das ist fast schon eine kulturpolitische Agenda.
Und was sind die großen Zukunftsherausforderungen auf Stadtplanungsebene?
Swoboda: Ein immens wichtiger Punkt ist die Wechselwirkung zwischen Stadt und Digitalisierung: Wie wird sich die Stadt verändern, wenn wir in Zukunft alle nur noch online einkaufen? Was passiert mit all den Geschäftslokalen und Erdgeschosszonen, wenn die zum Teil Jahrhunderte alten Handelsstrukturen in kürzester Zeit vernichtet und verändert werden? Es kann doch nicht sein, dass wir überall Garageneinfahrten und Pop-up-Stores haben! In dieser Hinsicht könnte Wien mit seiner Geschichte wertvolle Pionierarbeit leisten und sich überlegen, wie man auf diese gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderung proaktiv reagieren und die Stadt intelligent weiterentwickeln kann.
Warum gerade Wien?
Swoboda: Warum nicht! Wir dürfen nicht den Fehler begehen, auf eine Einladung zu warten. Die Konkurrenz ist enorm. Mit so einem Projekt könnte sich Wien im internationalen Wettbewerb nachhaltig positionieren. Wien hat das Zeug dazu.
Hannes Swoboda,
geboren 1946 in Bad Deutsch-Altenburg, studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre. Von 1972 bis 1976 leitete er die wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung in der Wiener Arbeiterkammer, von 1976 bis 1986 die Abteilung für Kommunalpolitik. 1986 wurde er Klubobmann der Sozialistischen Fraktion. Von 1988 bis 1996 war er Stadtrat für Stadtentwicklung und Stadtplanung – und zwischenzeitlich auch für Personal, Verkehr und Außenbeziehungen der Stadt Wien. Von 1996 bis 2014 war er Mitglied des Europäischen Parlaments und stieg dort zunächst zum stellvertretenden, später zum Fraktionsvorsitzenden der SPE auf. 2014 zog er sich aus dem politischen Leben zurück. Heute ist er Präsident des Architekturzentrum Wien (AzW) und des International Institute of Peace.