1.2 Wien um 1920 Eine Metropole im Umbruch
Vor genau hundert Jahren wurde die Magistratsabteilung 18 für Stadtregulierung, Gartenwesen und Bauberatung gegründet. Zu dieser Zeit erholte sich Wien gerade von den Folgen und Zerstörungen des Ersten Weltkriegs. Dennoch: Mit Elektrifizierung, rasendem Gefauche, Würfeluhren, Telefonzellen und vor allem neuen Planungsinstrumenten hat sich das Bild der Stadt rasch gewandelt.
Peter Payer
Die Ausgangslage war nicht gerade einfach, wie Ludwig Hirschfeld, renommierter Journalist und Zeitdiagnostiker, unmissverständlich feststellte. Als Zentrum eines Reiches mit 53 Millionen Menschen war Wien zur vorvorigen Jahrhundertwende eine der führenden Metropolen Europas gewesen. In rasendem Tempo hatte man die Zwei-Millionen-Einwohner-Grenze erreicht und war zur viertgrößten Stadt des Kontinents und international anerkannten Weltstadt geworden. Eine dynamische Entwicklung, die – wie bekannt – durch den Ersten Weltkrieg jäh gestoppt wurde.
Die Folgen dieser epochalen Zäsur können rückblickend gar nicht hoch genug bewertet werden. Es war in jeder Hinsicht eine traumatische Erfahrung: sozial, wirtschaftlich, kulturell – aber natürlich auch aus stadtplanerischer und städtebaulicher Sicht. Aus der mächtigen kaiserlichen Reichshaupt- und Residenzstadt war die Kapitale eines republikanischen Kleinstaates geworden. Keine andere europäische Stadt hatte eine derart grundlegende Transformation zu bewältigen: Neue demokratische Strukturen waren zu schaffen, neue Verwaltungseinheiten, eine moderne Infrastruktur, ganz abgesehen vom höchst notwendigen Kampf gegen Hunger, Armut und Not.
Und das Elend war gewaltig. Die glanzvolle Metropole hatte sich in den letzten Kriegsjahren in eine schmutzige, finstere, sterbende Stadt verwandelt, mit tausenden Flüchtlingen, mit Mangelwirtschaft, Unterernährung, Krankheit und Tod. Die Mortalitätsrate lag um ein Vielfaches höher als in Berlin, Paris oder London. Aus der ganzen Welt kamen Journalisten angereist und berichteten ergriffen von dem einzigartigen urbanen Desaster, das sie hier vorfanden.
„Rotes Wien“ als neue Identität
Die Stadt musste sich neuerfinden. Ein erster wesentlicher Schritt dazu war die Trennung Wiens von Niederösterreich. 1920 beschlossen und Anfang 1922 in Kraft getreten, wurde Wien zum eigenen Bundesland mit deutlich mehr Gestaltungsspielraum als zuvor. Die Sozialdemokratische Partei war als führende politische Kraft aus den Wahlen hervorgegangen, ihr oblag es nun, das gewaltige Erneuerungsprogramm in Angriff zu nehmen. Das „Rote Wien“ sollte zur neuen Identität der Stadt werden. Dazu gehörte neben der bekannten Wohnbauinitiative und zahlreichen sozialen und fürsorglichen Impulsen auch eine Verwaltungsreform samt Neuregelung der Stadtplanung.
Letztere war als Disziplin noch relativ jung. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte sie sich – parallel zum Aufstieg des liberalen Bürgertums – als Wissenschaft etabliert und in den kommunalen Verwaltungen verankert. In Wien war erstmals 1898 eine eigene Abteilung für Stadtregulierung geschaffen worden, aus der nun, 1920, die neu geschaffene Magistratsabteilung 18 (Stadtregulierung, Gartenwesen, Bauberatung) hervorging. Zwar veränderten sich in der Folge deren Aufgaben in einigen Teilbereichen, die Stadtregulierung jedoch blieb stets die zentrale Agenda. Die Verabschiedung von sogenannten Regulierungsplänen – kurzum: die planvoll geordnete, nicht dem freien Spiel des Kapitals überlassene Entwicklung der Stadt – war für das Wien der Zwischenkriegszeit von essenzieller Bedeutung. Die Bezeichnung Magistratsabteilung 18 bestand bis zum Jahr 1927, danach wechselte diese mehrmals und wurde erst wieder 1946 eingeführt.
Keine vier Millionen Einwohner
Die Rahmenbedingungen hatten sich radikal verändert. Die einstige, noch von Otto Wagner gehegte Vision, dass Wien künftig an die vier Millionen Einwohner haben werde, war obsolet geworden. Die Einwohnerzahl schrumpfte kontinuierlich und sollte schon 1920 nur mehr 1,8 Millionen betragen. Das räumliche Umfeld, aus dem sich die Metropole einst – demografisch wie ökonomisch – speiste, gab es nicht mehr. Große städtebauliche Vorhaben wie der U-Bahn-Bau, die Errichtung des Donau-Oder-Kanals oder die Elektrifizierung der Stadtbahn waren ins Stocken geraten und konnten letztlich nicht mehr umgesetzt werden. Allein die gut funktionierende technische Infrastruktur war geblieben und stellte sodann jenes Fundament dar, auf dem das „Rote Wien“ sein Wohlfahrtsprogramm starten konnte.
Wenn auch weiterhin auf öffentlichen Repräsentationsgebäuden die Kaiserkrone prangte und damit die imperiale Vergangenheit im Stadtbild deutlich präsent war, wurde das republikanische Wien in den folgenden Jahren doch zunehmend sicht- und spürbar. Mitte der Zwanzigerjahre konnte man bereits erfolgreich Zwischenbilanz ziehen und stolz auf den Imagetransfer der Stadt verweisen. Ein 1926 bis 1928 von der Kommune herausgegebenes Städtewerk – vier repräsentative Prachtbände mit dem Titel Das neue Wien – brachte dies paradigmatisch zum Ausdruck. Drei Jahre später publizierte Erich Leischner unter dem gleichen Titel einen neuen Gesamtplan der Stadt, der den geänderten Blick auf Wien auch kartografisch dokumentierte. Es herrschte Aufbruchstimmung.
Nicht nur die Physiognomie, auch die Atmosphäre der Stadt veränderte sich. Technisierung und Beschleunigung begannen, den urbanen Alltag zu prägen. Im öffentlichen Raum avancierte der Verkehr zum Inbegriff des modernen Lebens – real wie in seinen sinnlichen Ausprägungen: Immer weniger Pferde und Pferdefuhrwerke, immer mehr Automobile, Autobusse und Motorräder durchquerten die Stadt. Die Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge hatte sich von rund 6.200 (1913) auf 11.700 (1921) fast verdoppelt, Tendenz stark steigend. 1926 wurde an der Opernkreuzung Wiens erste Verkehrsampel installiert. Ebendort wurden erstmals auch markierte Fußgeherstreifen auf der Fahrbahn angebracht, an anderen Orten wiederum verordnete man Kreisverkehre und Einbahnen. Straße und Gehsteig wurden deutlicher voneinander getrennt, alles im Dienste einer effizienten Organisation des Verkehrsgeschehens, das an Dichte und Tempo beständig zunahm.
Hupen und andere Lärmplagen
Als Transportmittel für die Massen diente nach wie vor und mehr denn je die Straßenbahn. Ihr ausgedehntes Netz entwickelte sich zum Rückgrat des öffentlichen Verkehrs. Lücken wurden geschlossen, man trieb die bereits begonnene Elektrifizierung voran, verdichtete die Intervalle und verbilligte die Tarife. Die Beförderungszahlen stiegen sogleich sprunghaft, Wien wurde zur Straßenbahnstadt par excellence – mit internationaler Vorbildwirkung. Auch die Stadtbahn wurde endlich elektrifiziert und 1925 neu eröffnet. Ein weiteres attraktives Massenverkehrsmittel war entstanden. In den folgenden Jahren stieg die Mobilität der Stadtbewohner kontinuierlich und verlagerte sich immer mehr vom Gehen zum Fahren.
All dies hatte auch Auswirkungen auf die Lautsphäre der Stadt. Wie schon zur Jahrhundertwende entbrannte in den Zeitungen eine heftige Debatte um die „Plage des Großstadtlärms“. Maßnahmen wurden gefordert, um den Bewohnern ein Mindestmaß an Ruhe zu gewährleisten. Nicht nur der deutsche Kulturphilosoph Theodor Lessing, einer der Pioniere der europäischen Lärmschutzbewegung, registrierte bei seinem Wien-Besuch im Frühjahr 1927 „viel Lärm, rasendes Gefauche von Autos und elektrischen Bahnen selbst in der Nacht“. Auch der bereits erwähnte Ludwig Hirschfeld musste einige Jahre später zu seinem Leidwesen an sich selbst eine „zunehmende Gereiztheit und Überempfindlichkeit gegen die Außenwelt, insbesondere gegen Lärm“, konstatieren.
Es war die bekannte Lärm- und Nervositätsdebatte, die wieder auflebte und für steigenden Unmut in der Bevölkerung sorgte. Im Zentrum der Auseinandersetzung standen die Hupsignale der Automobile und Motorräder, die sich nun in immer größeren Teilen der Stadt bemerkbar machten. Der deutlich merkbare Anstieg der akustischen Intoleranz führte international und auch in Wien zur Gründung von Lärmschutzorganisationen. Im Jahr 1934 sollte dann auch der „Österreichische Verband gegen die Lärmplage“ mit Sitz in Wien ins Leben gerufen werden.
Vom Lampenjubiläum zur Neonröhre
Auch optisch war das Stadtbild mittlerweile ein anderes geworden – insbesondere in der Nacht. 1923 hatte der Wiener Gemeinderat die flächendeckende Einführung der elektrischen Beleuchtung beschlossen. Mit der Herstellung der notwendigen Infrastruktur zur Stromerzeugung konnte die Zahl der elektrischen Lampen in der Folge rasch gesteigert werden. Voll Stolz feierte die Stadtverwaltung nun ein „Lampenjubiläum“ nach dem anderen: Im Jänner 1926 wurde die 5.000. Lampe in der Kalvarienberggasse in Betrieb genommen, im April 1927 die 10.000. Lampe am Margaretengürtel, im November 1929 die 20.000. Lampe in der Heiligenstädter Straße.
Wobei die einzelnen Straßen mit unterschiedlichen Lichtstärken ausgestattet wurden. So strahlten die großen Verkehrs- und Geschäftsstraßen mehr als doppelt so hell wie einfache Wohnstraßen, diese wiederum deutlich heller als die Landstraßen in den Vororten. Eindeutige Lichtzentren waren die Innenstadt mit Ringstraße und Kärntner Straße, die Mariahilfer Straße, die Praterstraße und das Vergnügungszentrum des Praters. Insgesamt erstrahlte das elektrisch beleuchtete Wien jener Jahre rund zehnmal heller als das alte Wien der Gaslaternen. Mit einem beleuchteten Straßennetz von fast 600 Kilometer Länge gehörte die Metropole schon Ende der 1920er-Jahre zu den bestbeleuchteten Großstädten der Welt.
Auch die Anstrahlung ausgewählter Gebäude trug zur neuen Lichtwirkung mit bei. Das Wiener Stadtbauamt erstellte eine Liste jener Sehenswürdigkeiten, die nachts mit speziellen Lichteffekten hervorgehoben werden sollten – allen voran Rathaus, Parlament, Hofburg, Oper, Karlskirche, Messepalast und Äußeres Burgtor.
Die sukzessive Beleuchtung des öffentlichen Raumes, die lichtmäßige Inszenierung von Fassaden, Eingängen und Schaufenstern verwandelten die Straßen in einen visuellen Erlebnisraum. Wobei neben den Glühbirnen immer öfter eine neue Art der Leuchtreklame zum Einsatz kam, die bunter und formenreicher war: die Neonröhre. An der Fassade des Café Payr, einem bekannten Treffpunkt der Filmwelt am Getreidemarkt, erstrahlte 1923 Wiens erste Neonreklame. In den folgenden Jahren waren es vor allem Großkinos und Warenhäuser, die mit spektakulären Werbungen beeindruckten. In der Zeitschrift Moderne Welt hieß es 1928 euphorisch: „Heute erstrahlen auch in Wien die großen Geschäftsstraßen (...) in den verschiedensten Farben der Lichtreklame, wodurch ein abendlicher Spaziergang durch die City von Wien zu einem eigenartigen, reizvollen Genuß wird. Die Elektrizität hat den Kampf gegen die Finsternis siegreich aufgenommen.“
Im amtlichen Zeichen des Papierkorbes
Die Gestaltung des öffentlichen Raumes wurde den neuen Verhältnissen angepasst. Fahrbahn- und Gehsteigflächen, die im Krieg arg in Mitleidenschaft gezogen worden waren, wurden so zügig wie möglich instand gesetzt. Die Befestigung der Straßen erfolgte nunmehr verstärkt durch Kleinsteinpflaster, Asphalt sowie Makadambeläge. Oberste Ziele waren die Gewährleistung der Verkehrszirkulation und die Verbesserung der Straßenhygiene. Gestank, Schmutz und Staub, einst vielgeschmähte Geißel der Großstadt, sollten durch möglichst glatte Oberflächen sowie forcierte Reinigung und Bespritzung der Straßen hintangehalten werden. Die moderne Stadt war – internationalen Vorbildern gemäß – eine hygienische Stadt. 1925 wurde denn auch im Messepalast eine große Ausstellung eröffnet, die sich dem Thema Hygiene in all ihren Facetten widmete.
Dem Diktum der Sauberkeit trug auch die Einführung eines neuen Straßenmöbels Rechnung: Ab 1924 wurden rund 6.000 „Abfallsammelkörbe“ aufgestellt. Die zylindrischen, aus durchbrochenen Eisengitter geformten Behälter waren an den Masten von Beleuchtungskörpern oder Verkehrsschildern montiert, darüber wies ein Schild mit der Aufschrift „Abfälle nicht wegwerfen, sondern ...“ auf den unmissverständlichen Zweck derselben hin. Die Wiener Polizei war angewiesen, Zuwiderhandelnde konsequent zu bestrafen. Für viele ein ungewohnt strenges Gebot, wie Ludwig Hirschfeld anmerkte, für den Wien nun eindeutig „im amtlichen Zeichen des Papierkorbes“ stand.
Parallel dazu erfuhr auch die hausbezogene Müllentsorgung eine Modernisierung. Tausende Coloniakübel wurden ab 1923 in den Höfen aufgestellt, das System der staubfreien Müllabfuhr wurde flächendeckend im Stadtgebiet eingeführt und war bereits fünf Jahre später weitgehend abgeschlossen. In relativ kurzer Zeit war Wien somit deutlich sauberer und gesünder geworden.
Wien und die Wohnung des Kollektivs
Der öffentliche Raum, verstanden als „Wohnung des Kollektivs“ (Walter Benjamin), präsentierte sich immer mehr im Gewand der Moderne. Zwar war er schon seit dem 19. Jahrhundert mit standardisierten Requisiten wie Bänken, Brunnen, Bedürfnisanstalten,Beleuchtungskörpern oder Reklametafeln ausgestattet worden, eine erneute Verdichtung und Nachjustierung schien jedoch vonnöten. Das neue Stadtmobiliar stand nun nicht nur im Zeichen der Hygiene, sondern diente vor allem der Kommunikation.
Tausende Plakatwände und über 300 Litfaß- und Reklamesäulen bescherten Wien schon bald einen internationalen Spitzenplatz auf dem Gebiet der Außenwerbung. Diese lag zum überwiegenden Teil in den Händen der Städtischen Ankündigungsunternehmung (Gewista), die 1921 gegründet und zwei Jahre später um die Tochterfirma Wipag erweitert worden war. Wobei sich die enorme Reklamedichte insbesondere in der Innenstadt und entlang der Ringstraße manifestierte.
Hier konnte man auch immer häufiger auf öffentliche Fernsprechanlagen treffen. Die Zahl der Telefonzellen, im modernen Look des Modells „Kiosk“, sollte bis 1930 auf 1.300 Stück steigen und sich sukzessive im ganzen Stadtgebiet verteilen. Gleiches galt für die öffentlichen Uhren, die in Form der Würfeluhr zum bestimmenden kommunalen Zeitanzeiger avancierten. Sie steckten das Wiener Territorium gleichsam chronometrisch ab und wurden so zum Symbol für den unbeugsamen Takt urbanen Lebens, aber auch ganz generell für den Anbruch einer neuen Zeit.
Peter Payer,
geboren 1962 in Leobersdorf, studierte Geschichte, Geografie, Raumforschung und Raumordnung in Wien. Ab 1990 arbeitete er in diversen Büros für Architektur und Stadtforschung sowie ab 1994 im Bereich der Stadterneuerung (Gebietsbetreuung Wien-Brigittenau). Heute ist er als Historiker, Stadtforscher und Publizist tätig. Er führt ein Büro für Stadtgeschichte und arbeitet als Kurator im Technischen Museum Wien. Zahlreiche Publikationen, zuletzt Der Klang der Großstadt. Eine Geschichte des Hörens, Wien 1850–1914 (Böhlau, 2018).