Landtag, 5. Sitzung vom 24.06.2021, Wörtliches Protokoll - Seite 32 von 93
Doch auch wenn die Welt Kopf steht, ist ein einfaches Mitdrehen nicht ausreichend, um den Aufgaben gerecht zu werden. Und das haben die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt verstanden. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle bei den Wienerinnen und Wienern herzlich für die Unterstützung, die Geduld und die Ausdauer bedanken. Wir alle haben in der vergangenen Zeit viel Mut und Disziplin bewiesen. Mein besonderer Dank gilt jedoch den vielen Kindern und Jugendlichen in dieser Stadt. Ihr Kinder und Jugendlichen habt gerade in der Krise gezeigt, wie stark ihr seid und wie gut ihr mit Veränderungen umgehen könnt, wenn man euch lässt oder wenn es keine Alternative gibt. Dafür möchte ich euch als eure Anwältin meinen tiefsten Respekt zollen, denn die Bereitschaft der Kinder und Jugendlichen, sich trotz ihres jungen Alters an die schwierigen Gegebenheiten anzupassen und stets nach Möglichkeiten und Wegen zu suchen, das Beste aus einer Situation zu machen, war und ist bemerkenswert.
Werte Kolleginnen und Kollegen, wir alle müssen verstehen, dass die Lebenszeit eines 4-jährigen Kindes bedeutet, sich nur an 50 Prozent seiner eigenen Lebenszeit zu erinnern. Umgerechnet auf zum Beispiel die Lebenszeit einer 50-jährigen Person bedeutet das, dass die letzten 25 Jahre nicht stattgefunden haben. Dies bedeutet aber auch, dass ein 4-jähriges Kind eine Realität vor Augen hat, die von Lockdowns, Kindergarten- oder Schulschließungen, Quarantäne und Restriktionen der Covid-Maßnahmen geprägt ist. Die entwicklungspsychologischen Entbehrungen möchte ich gar nicht weiter ausführen.
Die Kinder und Jugendlichen dieser Stadt haben uns drei Dinge gelehrt: Erstens, sie dienen uns Erwachsenen als Vorbild, wie wir respektvoll miteinander umgehen können. Sie haben uns gelehrt, dass sie ein ausgeprägtes Problembewusstsein haben und entwickeln können und haben auch deswegen ein besonderes Recht, gehört zu werden. Und sie haben uns gelehrt, dass sie gerade in dieser für sie besonders schwierigen Zeit das Recht haben, dass wir Erwachsenen unsere Verpflichtung wahrnehmen, die Kinderrechte im größtmöglichen Umfang zu etablieren und entsprechend zu schützen, die Kinderrechte in ihrer weitreichenden Vielfalt und immensen Wirkungsmöglichkeit tatsächlich sichtbar und erlebbar zu machen.
Genau darin besteht der überparteiliche und unabhängige Auftrag der Kinder- und Jugendanwaltschaft der Stadt Wien. Kinderschutz ist systemrelevant, daher mein Dank an die vielen engagierten Kolleginnen und Kollegen der Stadt, die mit ihrer Präsenz und ihrem hohen Einsatz täglich unsere Kinder und Jugendlichen unterstützen und begleiten.
Der Kinderschutz ist einer der bedeutendsten Errungenschaften unserer Gesellschaft, wenn es darum geht, unser gutes Zusammenleben nachhaltig zu ermöglichen. Denken wir jedoch an jene Kinder, denen einstmals der Kinderschutz im stationären Bereich nicht gegeben war, und die betroffenen Personen bis heute unter schwersten Traumatisierungen leiden. Oder denken wir an jene junge Erwachsene, die nach der Verselbstständigung aus der vollen Erziehung oder einem weniger unterstützenden Elternhaus auf sich selbst zurückgeworfen sind und mit der Organisation und Bewältigung des Alltags überfordert sind.
Hier sehen wir, dass wir als Gesellschaft eine gemeinschaftliche Verantwortung zu tragen haben und bestmöglich unterstützen, begleiten, fordern und fördern müssen.
Mein Fazit ist daher: Der Ausnahmezustand 2020, hervorgerufen durch die Pandemie und die entsprechenden Maßnahmen, war gerade für Kinder und Jugendliche eine unwiederbringliche Zeit, gespickt mit Verlust, Verzicht, Reduktion und Isolation. Und diese Zeit hat uns ein Mal mehr die Schwachstellen unserer Systeme und hier besonders die Schwachstellen der vielen Schnittstellen oder gar fehlende Schnittstellen in den Prozessüberleitungen vor Augen geführt. So gelingt es beispielsweise nach wie vor zu wenig, Kinder und Jugendliche ernsthaft in Prozesse und Prozessentwicklungen oder Abläufe einzubinden, sie als gleichwertige Partnerinnen und Partner anzuerkennen und entsprechend geeignet zu kommunizieren.
Kinderschutzkonzepte und Kinderschutzrichtlinien schließen diese Lücke. Die Studie der Wirtschaftsuniversität Wien zur Betreuungskomplexität von Kindern und Jugendlichen zeigt deutlich, wie aufwändig, kompliziert, komplex, erschöpfend Kommunikation zur Bewältigung des Alltags und der besondere Bedarf von Kindern und Jugendlichen geworden sind. Eltern ringen um eine gemeinsame Sprache mit den jeweiligen Institutionen, geben oftmals auf, wenn sie wiederholt nicht gehört oder nicht auf Augenhöhe eingebunden werden. Kinderrechte sind dialogisch, sie sind partizipativ, inklusiv, protektiv und präventiv konzipiert. Diese Eigenschaften machen die Kinderrechte einzigartig und zeigen einen respektvollen und demokratischen Weg zur Auseinandersetzung, Entscheidungsprozesse zu lösen und an Lösungsfindungen heranzugehen.
Kinderrechte sind gelebt, wenn all diese Anteile erfüllt sind. Die Berücksichtigung der Kinderrechte in ihrer Gesamtheit ist uns bei der Ausgestaltung der Covid-Maßnahmen leider verloren gegangen, aber jetzt geht es darum, Erkenntnisse herauszufiltern und Erfahrungen zu nutzen.
Was wir deutlich gesehen haben, ist, dass Bildung, Soziales und Gesundheit gemeinsam gedacht werden müssen, denn ohne sozialökonomische Grundsäule gibt es keine Gesundheit, ohne Gesundheit kann Bildung nicht erlangt werden, ohne Bildung kann die sozialökonomische Grundsäule nicht entwickelt werden. Eine Zusammenarbeit und Zusammenführung dieser Bereiche erfordern viel Anstrengung und Kreativität. Das Überwinden der zementierten Strukturen erfordert auch Mut und Gelassenheit, denn wie Pippi Langstrumpf schon immer gesagt hat: Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.
Wir sehen, dass die vielen Bemühungen für die Kinder und Jugendlichen in unserer Stadt fruchten. Doch wer will schon nur ein „bemüht“ im Zeugnis stehen haben? Wir erleben eine kompetente Generation, die trotz
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