Landtag, 51. Sitzung vom 10.11.2020, Wörtliches Protokoll - Seite 5 von 8
Um die Situation treffend zu beschreiben, möchte ich hier aus dem Roman von Karl Ziak zitieren, den er 1931 unter dem Titel „Heldenroman einer Stadt“ publiziert hat. Wenn ich nur ein Zitat herausgreifen darf: „Der Körper verkümmert, der Magen schrumpft, die Muskeln erschlaffen, das Fett ist längst aufgezehrt. Die Widerstandskraft erlahmt. Menschen brechen auf der Straße zusammen. Menschen sterben Hungers. Eine Stadt stirbt. Auf tausend Todesfälle vierhundert Lebendgeburten.“
Das war die Situation 1918, 1919, 1920, in der Zeit, in der man darüber nachgedacht hat, wie man mit der Situation in der sterbenden Stadt Wien umgehen kann. Es ist den damals politisch Verantwortlichen bewusst geworden, dass es notwendig sein wird, eine Transformation durchzuführen, demokratische Strukturen zu schaffen - neue Verwaltungseinheiten, eine moderne Infrastruktur - und, wenn man so will, war die politische Karriere unserer Stadt mit einer besonders schwierigen Anfangssituation verbunden.
Gerade weil die Wohnbaupolitik der Stadt Wien in der Ersten Republik angesprochen worden ist, die international große Anerkennung gefunden hat: Man darf nie vergessen, dass das deshalb notwendig war, weil die Wohnsituation davor noch in der Monarchie in Wien eine besonders triste, eine besonders schlechte war. Eine der Lungenkrankheiten hat man auch die Wiener Krankheit genannt, weil sie durch besonders dunkle, feuchte Wohnsituationen verursacht worden ist, durch Räume, die alles andere als gesund waren.
Wenn am 1. Oktober die Bundesverfassung beschlossen worden und am 10. November in Kraft getreten ist, so war das auch der Beginn des eigenständigen Bundeslandes Wien, denn noch am selben Tag - am 10. November 1920 - ist die Wiener Stadtverfassung beschlossen worden. Landtagspräsident Woller hat zu Recht darauf hingewiesen, welch wichtiger Schritt in die Zukunft das war. Diese Emanzipation Wiens von Niederösterreich hat auch die Möglichkeit geschaffen, neue Wege zu gehen. Dieser Regierungswechsel und Neustart in der Stadtverfassung hat die Möglichkeit geboten, Inhalte auf den Weg zu bringen, aber auch Persönlichkeiten in politischer Verantwortung vorzufinden, die kraft ihres Amtes Innovationen eingeleitet haben, die bis heute beispielgebend sind.
Wenn ich an Finanzstadtrat Hugo Breitner denke, an Gesundheitsstadtrat Julius Tandler, an den großen Schulreformer Otto Glöckel, aber auch an die Bürgermeister Jakob Reumann und Karl Seitz, die prägende Persönlichkeiten in der Ersten Republik waren, bis Karl Seitz dann im Februar 1934 hier in diesen Räumen im Wiener Rathaus aus politischen Gründen verhaftet wurde: Dieses Dreamteam hat Innovationen gesetzt, auf die wir heute noch stolz sein können.
Viele Dinge, über die wir heute diskutieren, haben ihre Wurzeln auch in der damaligen Diskussion zur Stadtverfassung. Wenn ich an die nicht amtsführenden Stadträte denke, die ja Ergebnis dessen sind, dass Wien Bundesland und Stadt beziehungsweise Gemeinde ist und es nach dem Gemeindestatut ja auch vorgesehen ist, dass alle politischen Kräfte auf Grund des Wahlergebnisses ihren Niederschlag in einer Stadtregierung finden sollen: Es ist vielleicht ein typischer Wiener Kompromiss, dass man auf der einen Seite eine Trennung zwischen Regierung und Opposition vornimmt, aber trotzdem sicherstellt, dass alle politischen Parteien in einer Stadtregierung vertreten sind, dass die nicht amtsführenden Stadträtinnen und Stadträte die Möglichkeit haben, alle Akte einzusehen, an allen Abstimmungen teilzunehmen, am Entscheidungsprozess mitzuwirken und auch kontrollierend tätig zu sein.
Ich erwähne das deshalb, weil diese Funktionen in der Öffentlichkeit immer sehr unpopulär dargestellt werden. Als Bürgermeister und Landeshauptmann könnte ich auch sagen, ich bin froh, wenn das abgeschafft wird, dann gibt es weniger Personen, weniger politische Funktionärinnen und Funktionäre, die mich kontrollieren. Wenn wir aber davon ausgehen, dass das Miteinander wichtig ist, gerade auch in einer Großstadt wie Wien, in einem Bundesland wie Wien, dann denke ich, macht es Sinn, auch die Opposition so stark einzubinden, dass sie sehr frühzeitig bei allen Entscheidungen mitwirken kann.
Prinzipiell ist auch diese Entscheidung 1920 rund um die Beschlussfassung der Wiener Stadtverfassung getroffen worden. Dass dieses neue Wien ein ganz wichtiger, moderner, innovativer Schritt war - die Historiker nennen es immer das Rote Wien, die politisch Verantwortlichen damals haben eigentlich immer vom neuen Wien gesprochen, auch deshalb, weil sie durchaus viele ganz unterschiedliche politische Kräfte mitnehmen wollten, ein Stück des Weges mit den politisch Verantwortlichen zu gehen, und weil sie wussten, dass sie über die Parteigrenzen hinweg wirken müssen, um diese Innovationen durchzusetzen -, ist auch vom intellektuellen Wien sehr unterstützt worden.
Es haben sich damals große und wichtige Persönlichkeiten, auf die wir heute noch stolz sind - die zum Teil auch Ehrenbürgerinnen und Ehrenbürger der Stadt Wien sind -, dazu bekannt und dieses Projekt unterstützt: von Sigmund Freud über Arthur Schnitzler und Karl Kraus bis Friedrich Torberg. Es war ein abruptes Ende dieser Erfolgsgeschichte in der Ersten Republik, hervorgerufen durch die globale Finanzkrise, durch eine große Depression, aber vor allem durch die Machtergreifung zweier Faschismen, die diese Erfolgsgeschichte brutal beendet haben.
Das NS-Regime war sicher die schlimmste Zeit unseres Landes und unserer Stadt. Landtagspräsident Woller hat zu Recht auf die Ausstellung hingewiesen, die wir im Steinernen Saal sehen können und die von Barbara Steininger kuratiert worden ist. Ich möchte Sie, ich möchte Euch auf ein Bild ganz besonders aufmerksam machen: Es zeigt den Gemeinderats- beziehungsweise Landtagssitzungssaal in der NS-Zeit mit einem Hitlerbild, einer Hitlerbüste und den uniformierten NS-Schergen und auf der anderen Seite unter der Vorsitzführung des Landtagspräsidenten Hatzl, der 2008 die Betroffenen des NS-Regimes zu einer Fest- und Gedenksitzung eingeladen hat, bei der parteiübergreifend auch alle Vertriebenen- und Widerstandsorganisationen Gelegenheit gehabt ha
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