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Landtag, 18. Sitzung vom 22.11.2012, Wörtliches Protokoll  -  Seite 17 von 74

 

en legten Bahnmitarbeiter in einem 24-stündigen Streik den Zugverkehr lahm. Sehr geehrte Damen und Herren, niemals hätten wir uns noch vor vier Jahren vor Beginn der Krise vorstellen können, dass wir uns vier Jahre später in einer Situation wiederfinden würden, wo wir eine Jugendarbeitslosigkeit in vielen europäischen Staaten von bis zu 50 Prozent haben. Niemals hätten wir uns vorstellen können, dass wir vier Jahre später an einen Punkt gelangen würden, wo es in manchen Staaten wieder notwendig geworden ist, Lebensmittelgutscheine an Kinder zu vergeben, weil sich wie in Griechenland die Fälle häufen, wo Kinder in Schulen wegen mangelnder Ernährung in Ohnmacht fallen. Und niemals hätten wir uns zu Beginn der Krise vorstellen können, dass sich vier Jahre später die Krise wellenförmig auf viele europäische Staaten weiter ausweitet und sich verschärft. In diesem Zusammenhang muss man sich schon die Frage stellen: Warum verschärft sich die Krise in der Europäischen Union?

 

In anderen Teilen der Welt, in anderen Regionen kann man eine Entschärfung bemerken, einen gewissen Erholungsprozess, die Krise flaut ab, obwohl Europa eine geringere Schuldenquote hat als die USA. Wenn man heute den Bürgerinnen und Bürgern in Europa vorwirft, sie hätten über ihre Verhältnisse gelebt, sie hätten zu viele öffentliche Ausgaben getätigt, ist in Wirklichkeit dieses Spardiktat ein notwendiges Übel für die verfehlte Haushaltsdisziplin der letzten Jahre, so muss man mit aller Klarheit und Deutlichkeit sagen, das ist nur die halbe Wahrheit. (Beifall bei SPÖ und GRÜNEN.)

 

Das ist die Verwechslung von Ursache und Wirkung, und das bestätigen viele Daten und Zahlen. Vor der Krise gab es etliche Staaten, die Haushaltsüberschüsse hatten, nämlich die Krisenländer von heute, die eine geringe Schuldenquote hatten wie Irland und Spanien. Das wirklich Dramatische an der Situation heute ist, dass jene Politik, die die Krise verursacht hat, nämlich die Politik der liberalisierten Finanzmärkte, die Politik der Finanzspekulationen, die Politik der Austeritätspolitik sich heute nach wie vor nur wenig geändert hat, ganz im Gegenteil. Die Austeritätspolitik wird zum Primat erhoben, zur einzigen Lösung der Haushaltssanierung. Man versucht, diese Politik institutionell in Gesetzen, in Verfassungen zu verankern.

 

Man könnte glauben, nach der Krise ist vor der Krise. Heute wird auf den Staatsbankrott spekuliert. Die Zinsen der Anleihen von schlechten Ländern werden immer höher, steigen stetig an. Wir sehen, dass die deutsche Bundesregierung und die Troika unsere südeuropäischen Staaten zur Privatisierung ihrer öffentlichen Dienstleistungen drängt, einschließlich des Wassersektors, und dass hier eine Kürzungspolitik abverlangt wird, die im Bereich der öffentlichen Ausgaben und Sozialausgaben drastische Maßnahmen nach sich zieht. Wir sehen heute eine Welt, die in Nord und Süd geteilt ist, in Industrieländer und Entwicklungsländer. Und in Europa zeichnet sich eine Entwicklung ab, wo wir auch eine Teilung zwischen dem Norden und Süden merken, wo wir feststellen müssen, dass es Machtverhältnisse gibt, wo der Norden dem Süden eine Sparpolitik aufoktroyiert, die aber die Krise nur verschärft anstatt sie zu entschärfen und die die Länder in Wirklichkeit in eine weitere wirtschaftliche Rezession treibt. Wenn die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel letzte Woche vor dem Europäischen Parlament diese Sparpolitik verteidigt hat, dann muss man ihr vorhalten, sie hätte sich nie getraut, in ihrem eigenen Land diese Sparmaßnahmen durchzusetzen.

 

Wäre es vorstellbar gewesen, in Deutschland den Wassersektor zu privatisieren? Niemals! In Griechenland passiert das aber. Und je radikaler in diesen Ländern die Löhne und die Pensionen gekürzt werden, desto stärker schrumpft die Wirtschaft. Und man braucht kein Wirtschaftsexperte zu sein, um zu verstehen, dass dadurch die Einnahmen zurückgehen und es dadurch natürlich schwieriger wird, den Haushalt zu sanieren.

 

In Österreich gibt es natürlich auch Parteien, die der Meinung sind, das, was sich da unten in Südeuropa abspielt, geht uns nichts an. Unser Geld ist für uns. Und das sind natürlich einfach populistische Botschaften, die vielleicht gut ankommen, aber die in Wirklichkeit über die Tatsache hinwegtäuschen, dass ja gerade diese Austeritätspolitik, die wir heute vorfinden, die Krise in diesen Ländern verschärft hat, und dass in Wirklichkeit gerade wir ein Land sind, das sehr stark exportorientiert ist und dass wirtschaftliche Rezessionen in anderen Ländern natürlich auch auf uns zurückfallen. Österreich hat daher ein sehr großes Interesse daran, dass es solide Entwicklungen in süd- und osteuropäischen Ländern gibt. Es ist nicht nur eine Frage der Solidarität, es ist natürlich auch eine Frage des Eigeninteresses zu glauben, dass wir hier eine Insel der Seligen sind. Das mag in manchen Bereichen schon sein. Wirtschaftlich ist es aber nicht so, weil die wirtschaftlichen Verflechtungen so groß sind, dass sich Österreich aus dieser Entwicklung nicht einfach abkapseln kann. Daher sage ich noch einmal, wir haben ein sehr großes Interesse daran, dass es solide Entwicklungen in den süd- und osteuropäischen Ländern gibt. (Beifall bei SPÖ und GRÜNEN.)

 

Immer mehr Menschen in Europa empfinden, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird und dass sie bei wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen nicht mehr mitzuentscheiden haben. Es regieren Experten und Technokraten und man fragt sich natürlich: Wo ist die demokratische Legitimität? Und die Krise durch eine strikte Austeritätspolitik zu bekämpfen, wird immer kritischer beurteilt, das heißt, es macht sich immer mehr in Europa eine Stimmung breit, die sagt, wir brauchen einen Kurswechsel, wir brauchen eine Abkehr von dieser neoliberalen Politik.

 

Die gesellschaftliche Diskussion geht in die Richtung, dass wir einen Politikwechsel durch wirtschaftliches Wachstum brauchen. Wir brauchen staatliche Infrastrukturprogramme. Wir müssen die Wirtschaft durch die Stabilisierung von Sozialleistungen ankurbeln. Gelingt es uns nämlich nicht, in den nächsten Jahren ein höheres Wirtschaftswachstum auf den Weg zu bringen, dann droht der Eurozone und Europa insgesamt eine langjährige Stagnation, die auf dem Rücken der Armen und Ärmsten ausgetragen wird, und das müssen wir auf

 

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