Gemeinderat, 51. Sitzung vom 20.03.2024, Wörtliches Protokoll - Seite 53 von 102
streng, sie hat über vieles gesprochen. Sie war wie viele Frauen nach dem Krieg eine alleinerziehende Frau und Mutter, die wenig geschlafen hat, viel mit sich ausgemacht hat und nie über den Krieg gesprochen hat.
An diesem Sonntag im Juli 1946, von der Postkarte, von der ich Ihnen gerade erzählt habe, schreibt ein gewisser Willi Bell eine Postkarte an meine Großmutter, nach Wochen, Monaten der Ungewissheit, einer Zeit, in der sie mit ihrer Mutter und mit den Kindern in einem kalten Zimmer geschlafen hat. Und die Postkarte erzählt die Geschichte weiter: „Ich war mit Ihrem Gatten zusammen und habe ihn als Menschen und Kameraden schätzen gelernt. Sein Abschied viel mir schwer.“ Jetzt stellen Sie sich vor, wie meine Großmutter mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter in einem kalten Zimmer sitzt, während sie sich um das tägliche Überleben bemüht. Dann erreicht sie eine zweite Postkarte, Wochen nach Herberts Tod, und darauf geschrieben steht: „Meine Liebe Frau! Endlich habe ich die Gelegenheit, dir ein paar Worte zu schreiben und dir damit zu bestätigen, dass ich in russischer Gefangenschaft am Leben und soweit auch wohlauf bin.“
Die Wirren des Zweiten Weltkrieges und vielleicht auch die Zensur haben dazu geführt, dass die Reihenfolge der Postkarten verwechselt wurde. Herbert schreibt weiter: „Der Gedanke an euch ist auch jetzt mein einziger und gerade jetzt größer denn je. Er muss auch in Erfüllung gehen, ich muss euch endlich wieder helfend zur Seite stehen.“ Diese beiden Postkarten - viele Menschen in dem Land haben ähnliche Botschaften bekommen -, die Jahrzehnte später erst ans Licht gekommen sind, enthalten einen unglaublichen Schatz an verborgenen Emotionen und Erinnerung. Zeit ihres Lebens haben viele Kinder bei uns im Land damit gekämpft, dass sie ohne Vater aufgewachsen sind, ein Schicksal, das vielfach nach dem Krieg auf vielen kleinen Kinderseelen gelastet hat.
Meine Mutter ist auch ohne Vater groß geworden, den hat sie nie gesehen, außer auf einem Bild, das am Klavier gestanden ist. Sie hat jahrzehntelang gedacht, ihr Vater hätte nichts von ihr gewusst. Als die ältere Schwester auf die Welt gekommen ist, ist der Vater noch im Haus. Wie sie auf die Welt kommt, ist er längst im Krieg, und meine Großmutter hat ja nie darüber gesprochen. Dann stirbt meine Großmutter, und wir finden in diversen Schubladen beim Aufräumen diese zwei Postkarten. In diesem Moment brechen unglaubliche Wunden auf, denn es ist der Schlusssatz, den wir hier zum allerersten Mal nach Jahrzehnten auf dieser Postkarte klein dazu gekritzelt lesen, wo wir merken, die Tinte geht schon aus, aber für die Worte geht es sich schon noch aus. Diese paar Worte bewegen meine Familie noch immer. Und was steht da geschrieben? „Ich schicke dir viele Ostergrüße, dir und den Kindern. Viele Küsse.“ Er hat also von meiner Mutter gewusst. Jahrzehnte später kommt das ans Licht.
Was will ich Ihnen damit erzählen? Ich glaube, dass es leicht ist, in der Hektik unseres Lebens die Vergangenheit zu vergessen, besonders wenn es eine sehr schmerzhafte Vergangenheit ist, und doch bewegt sie uns immer wieder. Auch am Haus oben am Wilhelminenberg, wo ich aufgewachsen bin, sieht man draußen noch immer die weißen Pfeile, die irgendwer mit dicker, weißer Farbe mit einem Pinsel gemalt hat, die vom Erdgeschoß runter in den Keller zeigen: Da ist ein Luftschutzbunker, da könnt ihr in Deckung gehen, wenn ihr wollt. Diese Zeichen verblassen, die Menschen verstummen, und das Fest der Freude bleibt und erinnert uns immer wieder an eine Schreckenszeit. Die Menschen, die am eigenen Leib diese Schreckenszeit erfahren haben, sie mit eigenen Augen gesehen haben, sie eigens gespürt haben, werden immer weniger unter uns.
Vor bald 80 Jahren hat ein Krieg geendet, der das Antlitz der Welt für immer verändert hat, der Millionen das Leben kostete. Es ist ein Krieg, der Familien zerstört hat und ganze Nationen in Trauer und Verzweiflung gestürzt hat. Es ist leicht, in der Hektik unseres Lebens die Vergangenheit zu vergessen, besonders wenn sie schmerzhaft ist. Doch in diesen Momenten der Erinnerung, wenn wir die Stimmen der Vergangenheit hören, können wir nicht vergessen, dass es an uns allen liegt, die Flamme der Erinnerung am Brennen zu halten.
Liebe Kollegen, liebe Wiener, liebe Mitbürger, lasst uns das Fest der Freude als Gelegenheit sehen, unsere Verpflichtung zu erneuern, in Frieden und in Respekt miteinander zu leben. An uns alle in der Politik Tätigen, gerade in einem Jahr wie diesem: Wir mögen politische Gegner sein, immer wieder, selbstverständlich, mit unterschiedlichen Überzeugungen, mit unterschiedlichen Ansichten - na klar. Durch gegenseitige Achtung und Zusammenarbeit und Respekt können und müssen wir die Herausforderung unserer Zeit bewältigen und eine Zukunft aufbauen, die uns Frieden sichert. Vielleicht finden wir alle den Mut, uns zuzuhören, uns zu verstehen und auch respektvoll zu streiten. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei ÖVP, SPÖ, GRÜNEN und NEOS.)
Vorsitzende GRin Dr. Jennifer Kickert: Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr GR Schmid. Ich erteile es ihm.
GR Dr. Gerhard Schmid (SPÖ): Sehr geehrte Frau Vorsitzende! Frau Berichterstatterin! Frau Stadträtin! Lieber Peter!
Wir diskutieren und entscheiden in wenigen Augenblicken über die Förderung der Stadt Wien für das Fest der Freude 2024. Als einer derjenige, der an dem Tisch gesessen ist, wo beschlossen wurde, dass es dieses Fest der Freude gibt, möchte ich auch durchaus meinen Respekt gegenüber der aktuellen Bundesregierung zum Ausdruck bringen, die das wie die Regierungen davor auch uneingeschränkt unterstützt.
Du hast jetzt eine sehr bewegte, persönliche Geschichte erzählt, und wenn wir überlegen, warum wir dieses Fest der Freude machen und warum das auch wirklich ein Fest der Freude ist, ist das, weil der 8. Mai - und das findet immer am 8. Mai statt - der Tag der Befreiung Europas - in anderen Teilen der Welt war das später - vom Nationalsozialismus und der Beginn eines neuen Zeitalters und natürlich das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa war. Wenn wir das feiern, müssen wir auch immer wieder eine bestimmte Perspektive, die in die Zukunft gerichtet ist, sehen. Wir können eine Perspektive, die in die Zukunft gerichtet ist, aber nur entwickeln, wenn wir auch den Blick zurück machen.
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