Gemeinderat, 21. Sitzung vom 30.03.2022, Wörtliches Protokoll - Seite 40 von 94
Das Zitat von Clausewitz aus dem 19. Jahrhundert, dass Krieg nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, hat im 21. Jahrhundert keinen Platz mehr. Europa und vor allem Österreich stehen heute für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Freiheitsrechte und Gleichberechtigung sowie für eine lebendige Zivilgesellschaft, und wir stehen als Österreicherinnen und Österreicher und Wienerinnen und Wiener selbstverständlich in Europa auf der Seite jener, welche diese Werte vertreten.
Europa als Friedensgemeinschaft muss jedoch auch wieder lernen, diese Freiheiten zu verteidigen. Auch Österreich ist da gefordert, und es wurde heute bereits einmal erwähnt, dass man da durchaus Nachholbedarf und Luft nach oben hat. Europa beweist gerade, dass es möglich ist, hier zusammenzustehen gegen einen Aggressor, der alle diese Werte in Frage stellt. Wenn diese Werte bedroht werden, kann es nur eine Antwort geben: Die Ablehnung des Krieges zur Durchsetzung politischer Interessen und die Unterstützung jener Menschen, welche unverschuldet in Not sind. Heute sind es die Männer und Frauen der Ukraine, welche für diese Werte ihr Leben einsetzen. Es sind unsere Nachbarn, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenige Kilometer entfernt, welche auch unsere Werte verteidigen.
Natürlich kann man die Frage stellen, ob nicht der Friede wichtiger als die Freiheit ist und ob man nicht Druck ausüben sollte, um sich in irgendeiner Form zu einigen, weil das für uns sehr praktisch wäre. Jene, die das fordern, sollten sich jedoch fragen, was am nächsten Tag wäre. Benjamin Franklin, Staatsmann und Unterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, hat dazu vor 300 Jahren gemeint: Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren. - Denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch im Gefängnis herrscht Friede. Friede alleine ist zu wenig und ohne Freiheit nichts - das zeigen uns gerade die Menschen in der Ukraine, und deswegen ist es für mich vollkommen unverständlich, dass eine Partei, die sich Freiheitliche Partei nennt, hier so eine sehr mysteriöse Position bezieht.
Wie oft noch will man vor der Aggression kapitulieren? Appeasement-Politik gegenüber Diktatoren hat noch nie funktioniert, diese Erkenntnis zeigt sich auch jetzt, meine sehr verehrten Damen und Herren, denn es stellt sich die Frage: Wie lange will man zurückweichen? Wie lange will man Kompromisse machen? - Dies ist die Antwort an jene, welche verlangen, dass wir uns neutral verhalten.
Ich verstehe die Angst der Menschen in Österreich, in diesen Konflikt gezogen zu werden, aber wer für den Frieden jeden Kompromiss akzeptiert, kapituliert vor den Diktatoren dieser Welt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Am Ende steht man selber mit dem Rücken zur Wand, und was bleibt, ist die Aufgabe aller Werte, die uns und unserer Bevölkerung wichtig sind. Unsere Freiheit, unsere Demokratie und unsere Gesellschaft stehen heute auf dem Prüfstand. Österreich bleibt militärisch neutral, das ist vollkommen klar, aber wir bleiben nicht neutral, wenn es um Not, Leid und Unterstützung für Frauen, Alte, Kranke und Kinder geht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich war vor zwei Wochen mit einem Hilfskonvoi an der polnisch-ukrainischen Grenze. Unsere Frau Abgeordnete hat das bereits beschrieben: Es kommen dort nur Frauen und Kinder über die Grenze. Bei Kälte und im Schneetreiben stehen sie dort mit kleinen Koffern und warten auf den Weitertransport. Und es ist vollkommen surreal, denn im ukrainischen Radio wird zwischen Popmusik darüber berichtet, an welchen Bahnhöfen in Polen Auffangstationen eingerichtet sind, wo Ukrainisch gesprochen wird und dass Frauen nicht in private Autos einsteigen sollen, weil bereits Opfer von Menschenhändlern zu verzeichnen sind. Es ist unglaublich, was unsere Nachbarn in Polen in diesem Zusammenhang leisten. Obwohl auch dort die Ressourcen knapp werden, schaffen es die zuständigen Organe von Polizei und Hilfskräften, eine geordnete Versorgung sicherzustellen.
Ich habe selbst eine ukrainische Frau mit einem Sohn kennen gelernt. Sie haben es inzwischen nach Österreich geschafft. Sie ist Pflichtschullehrerin mit einem achtjährigen Sohn, sein Name ist Denis. Sie hatten dort einen Urlaub geplant, und ihr Sohn hat wunderschöne Zeichnungen gemalt. Inzwischen hat sie kein Zuhause mehr, ihr Sohn zeichnet nur noch Soldaten und Kriegsszenen, meine Damen und Herren. Das ist das, was diese Menschen erlebt haben, und deswegen wollten sie fliehen, aber sie hatten ein Leben und sie wollen ihre Freunde, ihre Familie gerne wieder haben. In Polen gibt es inzwischen über zwei Millionen Vertriebene.
Die europäische Zivilgesellschaft hat reagiert - Kirchen, Hilfsorganisationen. An der Grenze funktioniert die Versorgung. Gesamt sind es bereits über zehn Millionen Menschen, die vertrieben wurden, vier Millionen in den Nachbarstaaten. Übrigens, auch 250.000 Russen haben in der Zwischenzeit Russland verlassen - vielleicht ein deutliches Zeichen, dass das, was Herr Abg. Florianschütz gesagt hat, ein ganz wichtiger Punkt ist: Wie beziehen wir die russische Bevölkerung wieder in diesen Prozess ein? Ich rede nicht vom Präsidenten, über den schon viel gesagt wurde, aber es muss irgendwie gelingen, hier auch wieder eine Gesprächsebene zu finden.
Ein Teil der geflüchteten ukrainischen Nachbarn findet den Weg zu uns, hunderte Menschen, welche unsere Unterstützung brauchen, und das Einzige, worum unsere Nachbarn, ihre Männer und Frauen, welche auch für unsere Werte in den Krieg ziehen, uns ersuchen, ja, bitten, ist, dass wir ihren Familien eine sichere Unterkunft geben. Über 200.000 ukrainische Gastarbeiter sind aus Polen in die Ukraine zurückgekehrt, um dort zu kämpfen. Die waren bereits in Sicherheit, und ihre Familien sind auf der Flucht, und ich frage Sie wirklich: Ist das Ihr Ernst, dass Sie hier über Oligarchen sprechen, dass Sie hier darüber reden, dass bei uns Autos, Mercedes parken und man sich überlegen sollte, ob das nicht die falschen Ukrainer sind, die hier bei uns sind? Ist das wirklich Ihre Position? - Das ist zynisch, das ist menschenverachtend und absolut abzulehnen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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