Gemeinderat,
41. Sitzung vom 02.12.2008, Wörtliches Protokoll - Seite 5 von 26
Redezeit für den Erstredner jeder Fraktion 30 Minuten beträgt, die Redezeit jedes weiteren Redners ist mit 15 Minuten begrenzt.
Als nächster Redner hat sich Herr StR Ellensohn zu
Wort gemeldet. Ich erteile es ihm.
StR David Ellensohn:
Herr Vorsitzender! Sehr geehrte Damen und Herren!
„Armut explodiert in Wien – kalte Weihnachten für
tausende Familien und kleine Kinder." – Wir haben uns lange überlegt, ob
diese Wortwahl vielleicht bei dem einen oder anderen den Gedanken auslöst: Na,
jetzt kommen sie mit den kleinen Kindern. Das ist wieder ein tiefer Versuch.
Aber was immer man über den Titel dieser Sitzung heute sagen möchte, das
Problem ist nicht der Titel, sondern die Wahrheit, die dahintersteckt. Und
eigentlich müsste man sagen – das ist nicht theatralisch, sondern so ist es –,
die gesamte Politik, jeder Einzelne von uns müsste sich schämen angesichts der
Zahlen, dass da draußen in dieser reichen Stadt bis zu 100 000 Kinder in
Armut leben. Das ist ein inakzeptabler Zustand, und das muss man am Anfang
einmal festhalten: 100 000 Kinder in Wien an und unter der
Armutsgrenze. Das ist eine bodenlose Zumutung, eine Sauerei, die nicht zu
akzeptieren ist. (Empörte Zwischenrufe bei der SPÖ.) Hören Sie auf mit den Kleinigkeiten.
Reden wir einmal darüber, wer verantwortlich ist für die Armut.
Vorsitzender GR Godwin Schuster (unterbrechend):
Herr Stadtrat! Kollege Ellensohn, Sie wissen ganz genau, dass wir bestimmte Begriffe
wirklich nicht akzeptieren. Provozieren sollte man einen Ordnungsruf nicht
unbedingt.
StR David Ellensohn (fortsetzend):
Ich will nicht provozieren. Die Provokation liegt in den Zahlen und liegt
darin, dass Sie jeden Tag, wenn Sie in einen Kindergarten, jeden Tag, wenn Sie
in eine Schule gehen, arme Kinder herumlaufen sehen. Und Sie sehen es ihnen
sogar an. Das Problem ist nicht, welche Wörter wir dafür finden, sondern ob wir
hier politische Antworten dafür finden, und das haben wir in der Vergangenheit
nicht getan.
Armut hat viele Gesichter. Die Armutsfall Alter, auf
die wir heute nicht gezielt eingehen. Alte Frauen hauptsächlich und alte Männer
sind massenhaft arm mit Pensionen, die hinten und vorne nicht reichen. Armut
hat ein weibliches Gesicht. Frausein alleine ist ein Armutsrisiko in dieser
Stadt. Da brauchen wir nicht lange von Working Poor und Handelsangestellten zu
reden, die gerade im Dezember für niedrige Löhne Enormes leisten müssen. Armut
hat aber auch das Gesicht von dreijährigen Buben und neunjährigen Mädchen. Und
oft genug, jedes Mal, wenn Sie in einer Straßenbahn fahren, sehen Sie welche,
jedes Mal, wenn Sie in der Stadt in einen Park gehen, sehen sie welche,
ununterbrochen sind Sie damit konfrontiert. Familien mit mehr als zwei Kindern
haben in Wien ein doppelt so hohes Armutsrisiko wie andere. Und noch schlimmer
ist es bei den Ein-Erwachsenen-Haushalten. Wenn nur ein Erwachsener da ist,
dann ist es egal, ob es ein, zwei oder drei Kinder sind, diese Haushalte sind
mehr als doppelt so stark armutsgefährdet wie andere.
Was heißt jetzt, ein „armes Kind"? Da gibt es
eine trockene Zusammenfassung, wie wir sie gewohnt sind, denn sonst hielte man
es eh kaum aus, in vielen, vielen Dokumenten und Aktenstücken, die Sie auch
kennen: Von Armut bedrohte Kinder sind selten bei Aktivitäten dabei, können und
wollen keine FreundInnen nach Hause einladen, haben selten oder nie ein
Jausenbrot dabei, können nicht mit auf die Schullandwoche fahren, können bei
neuen Spielwaren, Filmen, Büchern nicht mitreden, weil sie sie nicht haben,
leben in schlechten Wohnverhältnissen, sind häufig krank, haben Eltern, die
24 Stunden am Tag damit beschäftigt sind, das Überleben zu sichern, haben
geringe Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss, weil in Österreich Bildung
vererbt wird in einem höheren Ausmaß als woanders. Das sagen uns die Berichte,
die auch von der Stadt irgendwo zu lesen sind. Das ist die trockene Seite.
Was sagen die Kinder selber? Es gibt in Österreich
eine Umfrage. 17 000 Kinder wurden gefragt, was man denn an ihrem Leben
ändern müsste. Das war nicht ausschließlich eine Befragung über Armut, sondern
darüber, wie es den Kindern geht. Kinder ab zwei Jahren, die gerade einmal ein
bisschen sprechen können, wurden befragt, ebenso wie Kinder bis hinauf in die
Teenager-Jahre.
Kinder selber – da gibt es eine Zitatensammlung der
Kinder- und Jugendanwaltschaft Wiens, die könnten Sie auch kennen – drücken das
dann so aus: Meine Eltern haben kein Geld. Ich habe selber kein Geld und
weniger Taschengeld als andere. Sie sagen, dass Kinder verkauft werden müssen.
Ich habe kein eigenes Zimmer. Ich werde misshandelt. Ich muss frieren. Ich habe
kein eigenes Bett. Ich muss betteln gehen.
5 Prozent der Kinder wollen gezielt
Verbesserungen im Bereich der Armut. Die formulieren das anders, aber
erschreckend ist die Zahl dahinter, was sie damit tatsächlich sagen, was
immerhin 5 Prozent der Kinder, die man bei einer Umfrage von 17 000
gefragt hat, was sie sich denn wünschen würden für alle, sagen. Die wünschen
sich nicht den DVD-Spieler, nicht irgendwelche Computerspiele, sondern der Satz
lautet ganz banal: Essen für alle. Jedes zwanzigste Kind gibt an, ein Problem,
das es gerne gelöst hätte, wäre Essen für alle.
Das ist eine Schande! Jeder Mensch, der in diesem
Land und dieser Stadt politische Verantwortung trägt, sollte sich dafür
genieren. Jedes zwanzigste Kind sagt: Essen für alle. Die träumen nicht von
irgendwelchen Reichtümern.
Es ist ein Skandal an sich! Wir
müssen das irgendwann kapieren da herinnen, dass das ein Skandal ist, und nicht
bei einer Krise immer alle beispringen, weil es dringend notwendig ist,
Privatbanken zu retten. Ich will ein Paket gegen Kinderarmut, in dem
sichergestellt ist, dass wir am Ende nicht 100 000 Kinder in Wien haben,
die arm sind. Die Energie und die Entscheidungsfreudigkeit, die die Politik hat
und an den Tag legt und das Geld, das dann fließt, wenn wir Millionäre retten,
das hätte ich auch gerne, wenn man kleine Kinder retten muss. Und
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