1.1 Frauenwahlrecht und Partizipation

Am 23. August 1848 gehen 3000 Frauen und Männer für ihr Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit auf die Straße, nachdem der ohnehin geringere lohn der erdarbeiterinnen im Straßenbau ein weiteres Mal gesenkt worden war. Am Beginn der Prater Hauptallee wird die Demonstration von der kaiserlichen Nationalgarde blutig niedergeschlagen. 18 tote Arbeiterinnen und 282 Verletzte ist die traurige Bilanz. Diese „Praterschlacht“ empört nicht nur die Arbeiterschaft, sondern auch bürgerliche und adelige Frauen.
Adelheid Popp hält 1919 als erste Frau eine Rede im Nationalrat zur Abschaffung des Adels und für die Gleichheit aller Menschen. Die ersten von Frauen bearbeiteten und eingebrachten Gesetzesvorschläge behandeln die Besserstellung von Dienstmädchen und die Änderung des frauenfeindlichen Ehe- und Familiengesetzes aus dem Jahr 1811. Mit der christlich-sozialen Abgeordneten Olga Rudel-Zeynek nimmt ab 1927 die erste Frau weltweit, die Position einer Bundestagspräsidentin ein.
Unmittelbar nach der „Praterschlacht“ wird der erste politische Frauenverein im Wiener Volksgarten gegründet. Gefordert werden Zugang zu höherer Bildung für Mädchen und Gleichberechtigung der Frauen. In den Vereinsstatuten erklären die Gründerinnen ausdrücklich ihre Solidarität mit den Arbeiterinnen. Bald sind die Vereinsgründerinnen selbst Opfer der Niederschlagung der Revolution und ihr Verein wird wieder aufgelöst. Die Frauen geben jedoch nicht auf. Trotz Vereinsverbot organisieren sich Frauen weiterhin. Sie halten Reden, gründen Zeitungen und knüpfen Kontakte zu Männern und Abgeordneten, die das allgemeine Frauenwahlrecht grundsätzlich unterstützen. Durch das von Kaiser Franz Joseph I 1867 erlassene Reichsgrundgesetz erhalten vermögendere, privilegierte Frauen ein eingeschränktes Wahlrecht, verlieren dieses jedoch 1907 mit der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts.
Am 19. März 1911 zieht die größte Frauendemonstration der österreichischen Geschichte über die Wiener Ringstraße. 20.000 Frauen und Männer fordern das Frauenwahlrecht, gleichen Lohn für gleiche Arbeit und die Abschaffung des §144, der Schwangerschaftsabbruch unter Gefängnisstrafe stellt. Sieben Jahre später gelingt 1918 schließlich die Durchsetzung des Frauenwahlrechts.
1919 ziehen die ersten acht Frauen von 170 Abgeordneten in den Nationalrat ein: Anna Boschek, Emmy Freundlich, Adelheid Popp, Gabriele Proft, Therese Schlesinger, Amalie Seidel und Maria tusch für die sozialdemokratische Partei sowie Hildegard Burjan für die christlich-soziale Partei.
48 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts wird 1966 Grete Rehor (ÖVP) erste Ministerin Österreichs. Johanna Dohnal (SPÖ) übernimmt 1995 die Funktion der ersten Frauenministerin des Landes und setzt gemeinsam mit außerparlamentarischen Aktivistinnen der Frauenbewegung zahlreiche, rechtliche und politische Verbesserungen für Frauen durch. Als erste Nationalratspräsidentin übernimmt schließlich Barbara Prammer (SPÖ) das Amt im Jahr 2006.
Obwohl der Anteil von Frauen in der Politik in den letzten Jahrzehnten gestiegen ist, entspricht er noch nicht dem realen Bevölkerungsanteil von Frauen mit 51 %. Österreich hatte bis heute noch nie eine Bundespräsidentin. Brigitte Bierlein war die erste Bundeskanzlerin in der Übergangsregierung von Juni 2019 bis Jänner 2020.