2.5 Zeitgemäße Gedenk- und Erinnerungskultur
Gedenk- und Erinnerungskultur formen das Zeit- und Geschichtsbewusstsein, das Selbst- und Weltbild einer Gesellschaft und ihrer Individuen. Der hohe Stellenwert, den Gedenk- und Erinnerungskultur in der Identität der Stadt Wien einnehmen, folgt der Überzeugung, dass in der Reflexion der Vergangenheit die Gegenwart verstanden und die Zukunft gedacht werden kann. Ziel aller Anstrengungen ist es, die Erinnerung an herausragende, aber auch dunkle Momente der Geschichte zu bewahren sowie den Dialog aufrechtzuerhalten – jetzt und für kommende Generationen.
Wo wir stehen
Wien ist reich an Orten der Erinnerung, an öffentlichen Institutionen und privaten, zivilgesellschaftlichen Initiativen, die mit ihrer Arbeit und ihrem Engagement die Gedenk- und Erinnerungskultur mitgestalten. Jedoch – Erinnerung steht niemals still und jede Generation stellt neue Fragen an die Geschichte. Wien hat das dringliche Bedürfnis der Gesellschaft zum differenzierenden und stets neu bewertenden Blick auf Historie erkannt.
Herausforderungen, die sich für eine zeitgenössische, aktive und lebendige Gedenkkultur stellen, sind etwa der Verlust von Zeitzeug*innenschaft und damit von moralischen Instanzen in der Erinnerung des Nationalsozialismus. Es braucht Begegnungen, die wichtig sind für die Verankerung eines kritischen Geschichtsbewusstseins in allen Teilen der Bevölkerung und Generationen sowie neue Formen des Gedenkens. Eine differenzierende Gedenk- und Erinnerungskultur erfordert den Dialog sowie die partizipative Einbindung und Repräsentation einer zunehmend diverser werdenden Stadtgesellschaft und ihrer bislang verborgenen Geschichten.
Wien wird den eingeschlagenen Kurs hin zur Belebung der gesellschaftlichen Diskussion durch das Anstoßen von Reflexionsprozessen konsequent weiterverfolgen. Dazu gehört das Einbinden der Vielen, der Ausbau wissenschaftlicher Kooperationen und Austausch von Expertise sowie die Entwicklung neuer Modelle zur Kontextualisierung umstrittener Gedenkorte. Darüber hinaus gilt es, Strukturen zu schärfen bzw. neu zu etablieren und Synergien zwischen verschiedenen Wissens- und Vermittlungsressourcen zu schaffen.
Was wir erreichen wollen
Hauptzielsetzung 1: Wien versteht Gedächtniskultur als Praxis des steten Ausverhandelns: Daher wurde bis 2030 die kritische Auseinandersetzung mit Stadtgeschichte über strukturierte, kooperative, transparente wie offene Dialoge zwischen Vertreter*innen aus den Bereichen Kultur, Wissenschaft, Politik und Stadtgesellschaft weiter ausgebaut. Die Kontextualisierungsfragen zu historisch belasteten Kulturobjekten wird darüber hinaus wissenschaftlich und diskursiv begleitet, um angemessene, individuelle Lösungen zu finden. Gedenk- und Erinnerungskultur beinhaltet auch transformative soziale Prozesse und Formate.
Hauptzielsetzung 2: Neue Ansätze in der Vermittlung von Geschichte stellen den Transfer ins Heute und das Verständnis für die Relevanz des Vergangenen her. 2030 gibt es ein noch breiteres Angebot an gedenkkultureller Vermittlung, an dem miteinander vernetzte und Synergien ausnutzende zivilgesellschaftliche Initiativen sowie institutionelle Orte der Gedenkkultur teilnehmen.
Hauptzielsetzung 3: 2030 wird die Geschichte der gesamten Wiener Stadtgesellschaft mit ihren unterschiedlichen Communities erzählt und sichtbar gemacht. Zeitgenössische und im lokalen Umfeld eingebettete Formate des Erinnerns erweitern das Angebot an niederschwelliger und partizipativer Geschichtsvermittlung.
Ausgewählte Maßnahmen
Maßnahme 1: Erweiterte Fördermöglichkeiten für interdisziplinäre Projekte der Geschichtsvermittlung und ein interdisziplinärer Call für neue Ansätze und Formate.
Maßnahme 2: Einrichtung von Fellowships, Stipendien oder Residency-Programmen für Stadtgeschichte: „Gedächtnis der Stadt“.
Maßnahme 3: Erweiterte Dialogformate zu Denkmalkultur in Wien. Gedenk- und Erinnerungskultur ist noch diskursiver geworden und beinhaltet mehr transformative soziale Prozesse und Formate.
ARCUS (Schatten eines Regenbogens)
Seit Juni 2023 hat Wien ein Denkmal, das die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen an homosexuellen Menschen wachhält und ihrer Opfer im öffentlichen Raum gedenkt: „ARCUS (Schatten eines Regenbogens)“ von Sarah Ortmeyer und Karl Kolbitz. Das Denkmal ist ein Meilenstein der Gedenkkultur, verleiht es doch einer der letzten, jahrzehntelang verschwiegenen Opfergruppe, die erst 2005 in das Opferfürsorgegesetz aufgenommen wurden, Sichtbarkeit. Dem permanenten Gedenkort im Resselpark waren seit 2006 zahlreiche Debatten sowie verschiedene temporäre Mahnmäler am Morzinplatz und am Naschmarkt vorausgegangen. Im Vorfeld des Wettbewerbes fand ein umfassender Reflexionsprozess mit den Communities statt, der 2014 mit der Fachtagung „Gedenken neu gedacht“ begann und von der Antidiskriminierungsstelle für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen der Stadt Wien (WASt) begleitet wurde. An diese diskursive Vorarbeit schloss 2021 der offene, zweistufige Wettbewerb an, den KÖR Kunst im öffentlichen Raum Wien und WASt gemeinsam auslobten. Dank der Zusammenarbeit und des offenen Dialogs der Stadt mit der queeren Community, mit Expert*innen aus Kunst, Gedenkkultur und Wissenschaft ist es gelungen, diesen langen Entstehungsprozess zu einem würdigen und überzeugenden Ergebnis zu bringen.