2. Rechtliche Aspekte in Österreich

2.2 Melde- und Anzeigepflicht

Bestimmte Berufsgruppen unterliegen einer gesetzlichen Anzeigepflicht, wenn in Ausübung ihres Berufs der Verdacht auf eine schwere Körperverletzung, zu der FGM/C zählt, entsteht. Dieser Pflicht unterliegen vor allem Gesundheitsberufe (z.B. Krankenpfleger*innen, Hebammen, Ärzt*innen, Psycholog*innen…), aber auch Behörden und öffentliche Dienststellen. Zu bedenken ist jedoch, dass eine Strafanzeige nur erfolgen muss, wenn

  • Täter*in oder Betroffene zum Zeitpunkt der Tat Österreicher*in sind oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben

  • oder die Tat in Österreich begangen wurde.

Fälle, die grundsätzlich angezeigt werden müssen, betreffen in der Praxis jene Mädchen, deren Eltern nach Österreich immigriert sind, und die im Zuge eines Heimaturlaubs im Herkunftsland FGM/C unterzogen werden.

Bei minderjährigen Mädchen kann eine polizeiliche Anzeige vorerst unterbleiben, wenn unverzüglich und nachweislich eine Meldung an die Kinder- und Jugendhilfe erfolgt und der Verzicht der Meldung hilfreich für das betroffene Opfer zu sein scheint.

Empfehlungen für die Handhabung der Melde- und Anzeigepflicht

I. FGM/C bei erwachsenen Frauen

Wenn Sie in Ausübung Ihres Gesundheitsberufs feststellen, dass Ihre Patientin von FGM/C betroffen ist: Versuchen Sie aufzuklären, wann, wo und durch wen FGM/C vorgenommen wurde. Wenn FGM/C im Ausland durch eine nicht-österreichische Person vorgenommen wurde, bevor die Betroffene (Nicht-Österreicherin) nach Österreich kam, müssen Sie keine Anzeige erstatten.

Bei Fragen in Zusammenhang mit FGM/C kontaktieren Sie ein geeignetes Zentrum (siehe Kapitel 6), um gemeinsam Interventionsmöglichkeiten zu erarbeiten und bedrohte Frauen und Mädchen kultursensibel zu schützen.

II. FGM/C bei minderjährigen Mädchen

II.1. Verdacht auf kürzlich erfolgte FGM/C

Wenn Sie in Ausübung Ihres Gesundheits- oder pädagogischen Berufs den Verdacht haben, dass eine Minderjährige, die in Österreich lebt oder die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, von FGM/C betroffen ist: Dann ist eine gesicherte Diagnosestellung vorrangig. Hierbei erscheinen die persönliche Kontaktaufnahme mit einem geeigneten Zentrum (siehe Kapitel 6) und die entsprechende Nachverfolgung, ob eine ärztliche Begutachtung stattgefunden hat, rechtlich ausreichend für alle betroffenen Berufsgruppen. Falls notwendig, wird eine Anzeige oder Meldung an die Kinder- und Jugendhilfe bei Bestätigung des Verdachts von diesen Zentren qualifiziert durchgeführt.

II.2 Verdacht auf drohende FGM/C

Wenn im Rahmen der Berufsausübung der Verdacht besteht, dass ein minderjähriges Mädchen gefährdet sein könnte (etwa während einer Urlaubsreise), FGM/C unterzogen zu werden, jedoch keine konkrete, akute Gefahr besteht, kontaktieren Sie ein geeignetes Zentrum (siehe Kapitel 6). Wenn dies notwendig ist, veranlassen diese Stellen eine Gefährdungsmeldung an die Kinder- und Jugendhilfe bei Uneinsichtigkeit der Familie bzw. bei bereits betroffenen Familienmitgliedern und drohender künftiger Manipulation an der Vulva. Nur bei unmittelbarer Gefahr im Verzug (Sie erlangen Kenntnis über die unmittelbar bevorstehende Durchführung von FGM/C) muss eine polizeiliche Anzeige erfolgen.