1.3 Soziokulturelle Grundlagen
Gesellschaften halten aus unterschiedlichen Gründen an FGM/C fest, das auf eine jahrtausendalte Praxis im antiken Ägypten zurückgehen soll. UNICEF geht davon aus, dass heute weltweit 200 Millionen Frauen und Mädchen von FGM/C betroffen sind. Auch in Europa und den USA des 19. Jahrhunderts wurden Frauen an den Genitalien beschnitten, um vermeintliche „Hysterie“ oder Masturbation zu „behandeln” . Je nach Region werden für FGM/C verschiedene Argumente angeführt, im Hintergrund steht jedoch stets die Kontrolle des weiblichen Körpers und der weiblichen Sexualität in einer patriarchal geprägten Gesellschaft. Viele der angeführten Gründe stehen in engem Zusammenhang zueinander:
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Soziale Norm: „Alle“ machen es, einer nicht beschnittenen Tochter und ihrer Familie drohen Stigmatisierung und soziale Exklusion. FGM/C ist ein Beitrag zur „Familienehre“. Manche Gesellschaften praktizieren FGM/C als einen Initiationsritus und feiern damit den Übergang eines Mädchens zur Frau.
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Ökonomischer Druck: FGM/C soll die Heirats- und somit Überlebenschancen eines Mädchens garantieren.
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Ästhetische Vorstellungen: Eine Frau, deren Genital nicht beschnitten ist, entspricht den lokalen Schönheitsidealen nicht – womit ihre Heiratschancen schwinden.
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Mythen über Körper und Gesundheit: Je nach Region kursieren Vorstellungen wie FGM/C steigere die Fruchtbarkeit, sei gesund für die sexuelle Entwicklung, die Infibulation schütze die Gebärmutter bzw. eine Schwangerschaft oder die Klitoris würde unbeschnitten immer weiter wachsen oder wäre giftig.
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Religiöse Zuschreibungen: Unabhängig von der Religion wird FGM/C auf religiöse Vorgaben zurückgeführt. Die „Reinheit” im spirituellen Sinne soll durch Beschneiden erlangt werden. Tatsächlich äußern sich alle Weltreligionen explizit gegen FGM/C. Der Irrglaube, es handle sich um eine religiöse Praxis, hält sich hartnäckig sowohl unter Betroffenen wie auch unter Außenstehenden. Zu diesem Missverständnis trägt die volkstümliche Bezeichnung von FGM/C Typ I als „Sunna“ (bezeichnet überlieferte Aussagen des islamischen Religionsgründers, die nicht Teil des Koran sind) bei.
FGM/C ist in manchen Regionen – abhängig von der allgemeinen Beschneidungsrate – stärker in dörflichen als in urbanen Strukturen, in ärmeren Haushalten und bei Töchtern von Müttern ohne Schulbildung verbreitet und wird in bestimmten Ethnien häufiger praktiziert. Abhängig von der Region, wird in unterschiedlichen Altersstufen und zu unterschiedlichen Anlässen beschnitten.
Bei Familien, die nach Europa emigriert sind, scheinen die Aufenthaltssicherheit und die Aufenthaltsdauer die Haltung gegenüber FGM/C im positiven Sinne zu verändern – der soziale Druck, FGM/C durchzuführen, verringert sich mit der Dauer des Aufenthalts.
In vielen Ländern wird FGM/C von traditionellen Beschneiderinnen durchgeführt, deren Tätigkeit in manchen Regionen mit Ansehen und hohem Honorar verbunden ist. Sie werden auch zur Defibulation in der Hochzeitsnacht oder vor einer Geburt gerufen – nicht selten handelt es sich um traditionelle Geburtshelferinnen. Die Rate an akuten Komplikationen ist bei traditionellen Beschneidungen sehr hoch, weshalb zunehmend medizinisches Personal FGM/C durchführt. In manchen Regionen wird FGM/C mehrheitlich von ausgebildetem klinischem Personal durchgeführt, zum Teil auch in Narkose (z.B. Ägypten). Doch auch unter ärztlicher Durchführung ist FGM/C nicht zu rechtfertigen und verstößt gegen die medizin-ethischen Grundsätze. Durch die sogenannte Medikalisierung von FGM/C droht eine Verharmlosung der nicht zu rechtfertigenden Körperverletzung im Kampf gegen FGM/C und der Eingriff kann sich aufgrund der Tatsache, dass keine Gegenwehr durch die Betroffenen zu erwarten ist, auch radikaler gestalten.
Gesetzliche Verbote bestehen bereits in sehr vielen Ländern und sind ein wichtiges Signal, reichen jedoch nicht aus, um von Generation zu Generation gepflegte Normen auszulöschen. Damit sich ein Dorf oder eine ganze Region von FGM/C abwendet, ist kultursensible Aufklärung vor Ort durch Individuen, Initiativen und die mediale Öffentlichkeit unverzichtbar. Erfolgreiche Prävention fußt auf langjähriger Sensibilisierungs- und Bildungsarbeit sowie Empowerment von Frauen und Mädchen. Auch sind Einkommensalternativen für die traditionellen Beschneiderinnen notwendig, die so z.B. vor Ort zu kompetenten Vortragenden bei Informationskampagnen gegen FGM/C werden können.
Nicht zuletzt ist es nötig, auch die männliche Bevölkerung und die Entscheidungsträger*innen miteinzubeziehen. Diese üben allein durch Bevorzugung einer beschnittenen Frau als Heiratskandidatin einen deutlichen gesellschaftlichen Einfluss aus. Haben einflussreiche Männer die negativen Auswirkungen von FGM/C auf die Gesundheit ihrer Frauen und Töchter einmal verstanden, kann dies von innen heraus die positive Einstellung zu einer bisher selbstverständlichen Tradition beenden.