1. Hintergrund

1.5 Akute und chronische Komplikationen

Die äußeren weiblichen Genitalien sind sehr sensibel und durch ein dichtes Nervengeflecht versorgt. Die Schmerzen, die durch eine Beschneidung bis zur Amputation ohne Anästhesie entstehen, sind daher enorm und für viele Betroffene nachhaltig traumatisch.

Zu den akuten Folgen weiblicher Beschneidung zählen außerdem starke Blutungen, die bis zum hämorrhagischen Schock führen können . Auch kann es zu Infektionen kommen, da häufig mit unsterilem Material beziehungsweise unter unsterilen Bedingungen gearbeitet wird. Nicht selten berichten Patientinnen, dass alte Rasierklingen verwendet wurden, Kuh-Dung zur Blutstillung aufgelegt oder der Wundverschluss mit Akaziendornen durchgeführt wurde. Dies kann neben akuten, im schlimmsten Fall tödlichen Infektionen auch zu chronischen Erkrankungen wie Hepatitis oder HIV sowie zur Bildung von Granulomen, Neurinomen und Fistelgängen mit Inkontinenz führen. Dieser Umstand drängt Betroffene an den Rand ihrer Lebensstrukturen und des sozialen Umfelds.

In Abhängigkeit der Umstände der Beschneidung (Alter der Betroffenen, anatomische Kenntnisse der Beschneidenden, Sichtverhältnisse) kann es zu Verletzungen von Harnröhre, Vagina und umliegender Strukturen kommen. Leisten die Betroffenen Widerstand, sind auch außergenitale Verletzungen möglich, wie Luxationen der Schulter, Knochenbrüche der Rippen oder Oberarme sowie Zungenbisse.

In der Zeit direkt nach der Beschneidung führen Schwellungen, Infibulation und Angst vor Schmerzen häufig zu Harnretention und schwerwiegenden urologischen Komplikationen . Zusätzlich werden die Mädchen und Frauen häufig, um Nachblutungen vorzubeugen, durch Zusammenbinden der Beine für Wochen immobilisiert.

Schmerzbedingt, aber auch durch kompletten Verschluss im Rahmen von FGM/C Typ III, kann es zu akuten Harnablaufstörungen bis zum Harnverhalt kommen.

In diesem Sinne werden auch Abflussstörungen von Menstruationsblut bis zum Hämatometrokolpos (Rückstau des Blutes in die Scheide und Gebärmutter) beobachtet. Daher zählen Dysmenorrhoe (Schmerzen bei der Menstruation) und Dys- und Pollakisurie (Schmerzen beim Urinieren bzw. häufigere, unvollständige Blasenentleerung) in Abhängigkeit vom Typ der Beschneidung zu den Langzeitfolgen von FGM/C.

Der verzögerte Abfluss von Harn und Menstruationsblut begünstigt Harnwegsinfekte und chronische Unterbauchschmerzen. Wenn sich Harn nach dem Urinieren hinter der Narbenplatte ansammelt und im Sinne eines „Nachtröpfeln“ verzögert abfließt, kann dies auch als Inkontinenz missinterpretiert werden.

Eines der häufigsten chronischen Beschwerdebilder nach FGM/C ist die Dyspareunie (Schmerzen beim Geschlechtsverkehr) . Diese beruht einerseits – unabhängig vom Typ der Beschneidung – auf fehlender Dehnbarkeit des Narbengewebes oder einem posttraumatischen Vaginismus (Verkrampfung der Scheidenmuskulatur); andererseits spielen die Verengung der Scheidenöffnung, die fehlende Lubrikation (Befeuchtung) und verzögerte bis fehlende Erregbarkeit je nach Beschneidungstyp eine Rolle.

Im Kontext einer umfassenden medizinischen Versorgung ist erwähnenswert, dass Betroffene Vorsorgeuntersuchungen wie PAP-Abstriche oder vaginale Ultraschalluntersuchungen häufig aus Sorge vor Schmerzen nicht wahrnehmen oder deren Durchführung nicht möglich ist, weshalb es in der Entdeckung von anderen gynäkologischen Krankheitsbildern wie Dysplasien oder Krebserkrankungen zu erheblichen Therapieverzögerungen kommen kann.

Das Ausmaß der psychischen Folgen variiert von Frau zu Frau. FGM/C und die entsprechenden Folgen können zu einem ausgeprägten psychischen Trauma und in Folge zu einer posttraumatischen Belastungsstörung, aber auch zu Depression, Angst- und Somatisierungsstörungen führen .

Auch geburtshilflich führt FGM/C zu einer deutlichen Risikoerhöhung für Komplikationen. Auf diese geht Unterkapitel 4.2 genauer ein.

Tabelle 2: Akute Komplikationen und Langzeitfolgen nach FGM/C

Akute Komplikationen Langzeitfolgen
Starke Schmerzen Chronisches Schmerzsyndrom
Lokale oder generalisierte Infektionen , septischer Schock Chronische Infektionen (Hepatitis, HIV , rezidivierende vaginale Infektionen und HWIs
Blutungen, hämorrhagischer Schock , Anämie Gynäkologische Komplikationen wie Dyspareunie , Dysmenorrhoe , fehlende Vorsorgeuntersuchungen
Harnverhalt, Urethra-Ödem, Dysurie Miktionsstörungen , Harnverlust durch „Nachtröpfeln“
Verletzung angrenzender Strukturen (Harnröhre, Vagina, ...) Geburtshilfliche Komplikationen wie protrahierte Geburtsverläufe , postpartale Hämorrhagien , Uterusrupturen, schwere Geburtsverletzungen (höhergradige Dammrisse – langfristig auch mit Stuhlinkontinenz und postpartalen Fistelbildungen) , Erhöhung der peripartalen Mortalität, schlechteres kindliches Outcome
Außergenitale (Kollateral-) Verletzungen wie Frakturen (Rippen), Luxationen (Schulter) Narbenkomplikationen wie Keloidbildung , Fistelbildung , Fremdkörperkeloide
Psychisches Akut-Trauma Posttraumatische Belastungsstörung , Depressionen, Angststörungen , Somatisierungsstörungen