4. Empfehlungen zur medizinischen und psychosozialen Betreuung

4.2 Medizinische Betreuung von schwangeren Frauen nach FGM/C

Von FGM/C betroffene Schwangere stellen die betreuenden Berufsgruppen, insbesondere Gynäkolog*innen, Geburtshelfer*innen sowie Hebammen vor besondere Herausforderungen. Andererseits bietet die Schwangerschaft durch die gynäkologischen Untersuchungen und die Anknüpfung an das Gesundheitssystem auch die Möglichkeit, Betroffene zu identifizieren, aufzuklären, therapeutische Optionen zu besprechen und präventiv tätig zu werden. Der im Eltern-Kind-Pass empfohlenen Hebammenberatung kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu, da sie die kostenlose Möglichkeit eines qualifizierten Anamnesegesprächs unter guten Rahmenverhältnissen bietet. Daher wäre es von besonderem Interesse, FGM/C und den Umgang mit Betroffenen zu einem verpflichtenden Teil der Hebammenausbildung zu integrieren, da oft große Unsicherheit und fehlende Kenntnisse eine wertfreie und kultursensible Beratung verhindern . Gerade diese Patientinnen profitieren besonders von einer Hebammenbetreuung im Wochenbett, wissen jedoch häufig gar nicht über ihren Anspruch diesbezüglich Bescheid.

Betroffene Patientinnen gehen mit einem durch FGM/C erhöhten Risiko in eine Spontangeburt . Idealerweise erfolgt daher bereits im Rahmen der Eltern-Kind-Pass-Untersuchungen eine Diagnose beziehungsweise bei der Geburtsanmeldung im Krankenhaus im Rahmen der Anamnese ein Screening auf FGM/C. In der Praxis geschieht es jedoch leider häufig, dass Betroffene erst unter der Geburt als solche erkannt werden.

Prinzipiell besteht durch die fehlende Dehnbarkeit des Narbengewebes unabhängig vom Beschneidungsgrad ein etwa zweifach erhöhtes Risiko (OR 1,6-2,7) für höhergradige Geburtsverletzungen wie Dammrisse 3. und 4. Grades . Es kann dadurch auch – je nach Versorgungssituation – zur Bildung von rectovaginalen Fisteln und Stuhlinkontinenz postpartal kommen . Außerdem ist FGM/C mit verlängerter Geburtsdauer (Austreibungsperiode) und schlechterem kindlichen Outcome vergesellschaftet .

In diesem Zusammenhang ist jedoch besonders erwähnenswert, dass die Durchführung eines Kaiserschnittes ohne andere geburtshilfliche Begründung im Sinne der Betroffenen zu vermeiden ist. Einerseits können durch die rechtzeitige Defibulation die erwähnten Risiken minimiert werden, andererseits erhöht die Durchführung eines Kaiserschnittes ohne eine Defibulation deutlich das mütterliche Risiko im Rahmen einer Folgeschwangerschaft – dies stellt gerade bei Patientinnen mit unklarem Aufenthaltsstatus bei späterer Rückführung in ihr Heimatland mit fraglichem Zugang zu einem erneuten Kaiserschnitt ein potenziell lebensbedrohliches Szenario dar.

Eine besondere Bedeutung kommt der frühzeitigen Vorstellung schwangerer Patientinnen, welche von FGM/C betroffen sind, an der entbindenden Abteilung zu. Dort sollte – gegebenenfalls unter Hinzuziehung einer geeigneten Dolmetscherin bei Sprachbarriere und, wenn möglich in Anwesenheit des Partners, ein Geburtsmodusgespräch geführt werden.

Für eine adäquate Vorbereitung auf die Geburt wird empfohlen:

  • Anamneseerhebung prinzipiell wie bei Nichtschwangeren

  • Zusätzlich intensivierte Frage nach Beschwerden und Dokumentation derselben (forensische Bedeutung von bereits vor der Geburt existierenden Beschwerden wie Dyspareunie)

  • Erhebung der geburtshilflichen Anamnese bei vorangegangenen Schwangerschaften, speziell in Hinblick auf Geburtsverletzungen, Versorgung derselben und gegebenenfalls bereits stattgefundene Defibulation und/oder Reinfibulation (Wiederverschließen nach Defibulation) unter der Geburt

  • Körperliche Untersuchung mit Dokumentation des Beschneidungsgrades und eventuell vorhandener Begleitdiagnosen (z.B. Atherome/Neurinome/etc.)

  • Aufklärung der Patientin über prinzipiell erhöhte geburtshilfliche Risiken

  • Festlegen der Indikation zur Defibulation und – falls bestehend – des Eingriffszeitpunktes

  • Anästhesiologische Vorstellung und Aufklärung zur Periduralanästhesie, insbesondere diesbezügliche Empfehlung, falls Defibulation geplant ist

  • Aufklärung über die medizinischen Empfehlungen und gesetzlichen Gegebenheiten in Österreich in Hinblick auf FMG/C

  • Aufklärung über die postpartale Versorgung und das Verbot der „Reinfibulation“ (Wiederverschließen nach Defibulation)

  • Evaluierung eines kindlichen Risikos bei weiblichen Feten, und gegebenenfalls Weitergabe einer Gefährdungseinschätzung postpartal an die Kinderschutzgruppe; wenn nötig auch Gefährdungsmeldung an die Kinder- und Jugendhilfe bzw. in seltenen Fällen die polizeiliche Anzeige (z.B. bei der Bitte um Durchführung von FGM/C – Gefahr im Verzug!)

  • Festlegen einer Vorgehensweise bei geplanter oder ungeplanter Sectio in Hinblick auf die Defibulation – z.B. wünscht die Patientin im Falle eines dringenden Kaiserschnittes zusätzlich eine Defibulation oder soll der Eingriff in diesem Fall eventuell im Intervall durchgeführt werden?

  • inbeziehen des Partners in alle Schritte der Aufklärung ist empfehlenswert

Als Best Practice-Beispiel für die Vorbereitung einer Geburt in einem Zentrum dient hier das von der Klinik Ottakring entworfene FGM/C-Blatt für Schwangere (siehe Kapitel 7).

Unter der Geburt kommt der individuellen Hebammenbetreuung in diesem Patientinnen-Kollektiv besondere Bedeutung zu. Die Durchführung von vaginalen Untersuchungen sollte nur bei entsprechenden Indikationen erfolgen und ist auf ein notwendiges Minimum zu beschränken.

Falls eine Defibulation notwendig erscheint, empfiehlt sich die Durchführung unter der Geburt bei aufsteigendem kindlichem Kopf unter adäquater Anästhesie (Periduralanästhesie wünschenswert, wenn nicht möglich auch Lokalanästhesie möglich). Dies erfordert jedoch die Verfügbarkeit von entsprechend geschultem Personal rund um die Uhr. Daher wird die Geburt idealerweise

in einem auf FGM/C-Patientinnen spezialisierten Zentrum geplant (siehe Unterkapitel 6.2). Ein entsprechendes Vorgehen ist jedoch von regionalen Gegebenheiten und Anfahrtswegen abhängig und unter Umständen nicht möglich. In diesem Fall sollte die Patientin bei Indikation bereits in der Schwangerschaft (ab der 16. SSW) geplant in Spinalanästhesie und in Abhängigkeit von der Schwangerschaftswoche unter CTG-Kontrolle defibuliert werden. Dies kann bei ausgeprägten Befunden von Typ III-Beschneidungen auch in spezialisierten Zentren notwendig sein, falls eine digital-vaginale Untersuchung oder eine transvaginale Sonographie aufgrund des Beschneidungsgrades unmöglich erscheinen. Bei solchermaßen Betroffenen sollte die Defibulation in der Schwangerschaft ebenfalls erwogen werden, da ansonsten bei Auftreten von Komplikationen in der Schwangerschaft beziehungsweise unter der Geburt unter Umständen lediglich aufgrund mangelnder diagnostischer Möglichkeiten eine Sectio indiziert werden müsste .

Postpartum erfolgt die Versorgung einer Defibulation analog zu nichtschwangeren Patientinnen sowie die Versorgung eventueller zusätzlicher Geburtsverletzungen. Gerade bei von FGM/C-Betroffenen ist – unabhängig von Defibulation und Geburtsverletzungen – aufgrund des Risikoprofils besonders auf die Wichtigkeit der rectal-digitalen Untersuchung postpartum zur Detektion höhergradiger Verletzungen hinzuweisen.

Ein stationärer Aufenthalt im Wochenbett bietet erneut die Gelegenheit zu Prävention bei weiblichen Kindern. Hierfür können Ärzt*innen, Psycholog*innen wie auch Hebammen oder Pflegepersonal in einem geschützten Rahmen dieses sensible Thema ansprechen ohne Verdächtigungen zu äußern und unter Berücksichtigung des kulturellen Hintergrunds eine Risikoabschätzung durchführen.

Die Diagnose FGM/C und gegebenenfalls die Defibulation sind zu dokumentieren und im Entlassungsbrief zu vermerken. Es ist in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Wichtigkeit und den Anspruch auf eine Hebammennachbetreuung im Wochenbett hinzuweisen – eine Informationsweitergabe durch den Entlassungsbrief ist daher unerlässlich. Die Hygiene- und Pflegeempfehlungen entsprechen denen der regulären Dammpflege nach Geburtsverletzungen.