4.1 Medizinische Betreuung von erwachsenen Frauen nach FGM/C
Aufgrund der Vielzahl an potenziellen Beschwerden und langfristigen Komplikationen können Betroffene an verschiedensten Stellen im Gesundheitssystem vorstellig werden. In den meisten Fällen ist die anamnestische Erhebung beziehungsweise Diagnosestellung und Überweisung an ein spezialisiertes Zentrum vorrangig und ausreichend.
Jedoch kann FGM/C auch unvermutet im klinischen Alltag auffallen, z.B. bei Indikationen zum Legen eines Blasenkatheters im Rahmen einer geplanten Operation. In dieser Hinsicht sollte FGM/C ein Bestandteil jeglicher medizinischer und pflegerischer Ausbildung sein, um in solchen Situationen eine adäquate Betreuung betroffener Frauen zu sichern . Es ist in Akutfällen empfehlenswert, der Patientin nicht durch zahlreiche frustrane Versuche der Untersuchung oder Katheterisierung Schmerzen zu bereiten, sondern die Indikation zu hinterfragen und bei tatsächlicher Notwendigkeit dies – gegebenenfalls unter Anästhesie – durch Personal mit der höchsten Expertise durchführen zu lassen.
Prinzipiell sind medizinische Gespräche zum Thema FGM/C zeitaufwendig und erfordern ein hohes Maß an kultureller Sensibilität. Es ist daher darauf zu achten, dass diese in einer geschützten, störungsfreien Atmosphäre durch geschultes Personal stattfinden können. Für die Zeitkalkulation bei der medizinischen Betreuung von FGM/C-Patientinnen ist es wesentlich, das bis zu Vierfache an Zeiteinheiten im Vergleich zu Routinebegutachtungen einzuplanen.
Häufig ist das Erheben einer Anamnese bei Patientinnen mit FGM/C nur mit Hilfe einer spezialisierten Dolmetscherin möglich. Diese sollte, wenn möglich, in Hinblick auf FGM/C geschult und weiblich sein. Dolmetschende Verwandte und Kinder können abhängig von ihrer Einstellung zu FGM/C und ihrer Position in der Familie hinderlich und unzulässig bei der Betreuung sein. Ebenso ist zu bedenken, dass von außen hinzugezogene und Video-Dolmetscherinnen gerade bei kleinen Communitys durchaus mit der Patientin bekannt sein könnten und zur Stigmatisierung einer hilfesuchenden Betroffenen in ihrem Umfeld beitragen.
Gespräche umfassen zunächst Aufklärung über die „normale Anatomie“ sowie die Veränderungen durch FGM/C und die entsprechenden medizinischen Konsequenzen. Anschließend erfolgen die Anamneseerhebung sowie eine körperliche Untersuchung – zumeist sind lediglich die Bestimmung des Beschneidungstyps, der äußerlichen anatomischen Verhältnisse sowie die Durchführung einer Abdominalsonographie ausreichend. Durch Traktion und Separation oder mittels Virgospekula erscheint das Angebot einer Vorsorgeuntersuchung, wenn gewünscht oder bei Beschwerden wie z.B. Fluor, ein gutes Angebot. Im Anschluss sollten konservative und operative Therapiemöglichkeiten sowie deren Erfolgsaussichten besprochen werden.
Weiterführende Untersuchungen wie PAP-Abstrichentnahme oder Vaginalsonographie können bei Planung einer operativen Therapie auf während der Operation oder die Zeit nach der Operation verschoben werden, wenn man sie schmerzfrei durchführen kann.
Themen, die im Rahmen einer medizinischen Begutachtung erfragt werden sollten:
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Alter bei der Beschneidung
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Ort der Beschneidung
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Medikalisiert oder durch eine traditionelle Beschneiderin
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Gab es akute Komplikationen (z.B. starke Blutungen oder Infektionen)?
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Hat bereits Geschlechtsverkehr oder der Versuch eines Geschlechtsverkehrs stattgefunden? (Achtung: Vergewaltigungen werden hierbei sehr häufig nicht erwähnt)
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Welche chronischen Beschwerden liegen vor z.B. bei der Menstruation, dem Geschlechtsverkehr oder beim Harnlassen?
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Besteht Kinderwunsch oder ist die Patientin bereits schwanger?
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Welche Wünsche, Vorstellungen und Ängste hat die Patientin in Hinblick auf ein therapeutisches Vorgehen?
Bei der Anamneseerhebung sollte beachtet werden, dass FGM/C ein Tabuthema für die Betroffene darstellt und daher häufig nicht als „bisherige Operation“ erwähnt wird . Eine Beschneidung in der nonverbalen Phase kann möglicherweise für die Patientin gar nicht abrufbar oder erinnerlich sein. Viele Betroffene kommunizieren über ihre durch FGM/C verursachten Symptome und sehen primär keinen Zusammenhang mit ihrem Beschneidungsstatus .
Ein rein chirurgisches Vorgehen ist häufig nur der Beginn eines therapeutischen Vorgehens – gerade bei vorbestehender Dyspareunie und Vaginismus sind sexualtherapeutische Maßnahmen sowie gegebenenfalls eine muttersprachliche psychologisch-psychotherapeutische Anbindung notwendig, finden aber in der Praxis aufgrund der finanziellen Situation der Betroffenen, des mangelnden Angebots in der Muttersprache oder wegen Ablehnung durch die Patientin häufig nicht statt.
Die operative Therapie richtet sich nach der Form der Beschneidung, den Beschwerden sowie den speziellen Wünschen der Patientinnen .
Operativ besteht die Möglichkeit einer Defibulation (Eröffnung der Narbenplatte in der Mittellinie) bei FGM Typ III, einer Erweiterungsplastik, einer Klitorisfreilegung oder -rekonstruktion sowie von komplexeren Rekonstruktionen des gesamten äußeren Genitals, welche neben der Funktionalität auch die kosmetische Wiederherstellung des äußeren Genitals zum Ziel haben. Bei der Wahl der geeigneten Operationsmethode ist die Patientin umfassend über Erfolgsaussichten , alternative Operationsmethoden sowie, besonders bei ausgedehnten rekonstruktiven Eingriffen, über potenzielle Risiken und Komplikationen aufzuklären (siehe Kasten). Aufklärung durch Fachpersonal sollte keineswegs direktiv und unter Zeitdruck erfolgen. Jede Betroffene sollte das Recht haben, für sich selbst entscheiden zu können, welcher operative Weg der Passende sein könnte . Hier sind Gespräche mit Personen, die diesen Weg bereits hinter sich gebracht haben, äußerst unterstützend.
Aufklärungsinhalte
Vor einer allfälligen operativen Therapie sollten im Rahmen eines Aufklärungsgesprächs folgende Punkte mit der Patientin besprochen werden, um die für die Patientin bestgeeignete Option zu wählen:
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Die Gesprächsführung sollte im Falle einer Sprachbarriere unbedingt mittels eigens geschulter Dolmetscher*innen erfolgen
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Erhebung einer ausführlichen Anamnese (optimalerweise mittels standardisierter Fragebögen falls vorhanden z.B. in Hinblick auf die Sexualität)
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Erfragen der vorrangigen Beschwerden und Aufklärung über Erfolgsaussichten in Hinblick auf diese Beschwerden durch eine operative Therapie
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Aufklärung über die Vor- und Nachteile der verschiedenen operativen Methoden im Vergleich inklusive Eingriffsdauer, Risiken, Komplikationen und die zu erwartenden Verbesserungen für die Betroffene
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Vergleich der operativen Methoden in Hinblick auf den funktionellen und den kosmetischen Endzustand
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Berücksichtigung der Wünsche und Vorstellungen der Betroffenen in der Wahl der geeigneten Methode
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Verweis auf andere spezialisierte Zentren, falls die bestgeeignete bzw. gewünschte operative Methode vor Ort nicht angeboten wird
Sämtliche Eingriffe sollten – obwohl es sich speziell bei der Defibulation nicht um eine langwierige oder komplexe Operation handelt – bevorzugt in Vollnarkose oder zumindest Spinalanästhesie durchgeführt werden, um eine Retraumatisierung der Patientin zu verhindern.
Auf die Defibulation der infibulierten Vulva als kleinsten Eingriff, der auch akut im Rahmen einer Geburt schnell und unkompliziert durchgeführt werden kann, soll hier näher eingegangen werden:
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Unter adäquater Anästhesie wird eine gerade Pinzette oder Klemme unter die Narbenspange im Bereich der geplanten Inzision (Mittellinie) eingeführt.
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Die Urethra sollte zuvor visualisiert werden und eventuell ein Harnkatheter gelegt werden, um Verletzungen bei verwachsenem Situs zu verhindern.
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Nun wird mit einem Skalpell, Elektrokoagulation oder einem anderen geeigneten Instrument das Narbengewebe nach kranial durchtrennt. Der Scheideneingang sowie die Urethra sollten nun einstellbar sein. Am besten sollte die geplante Höhe bzw. Länge der Eröffnung nach kranial in den OP-Revers gezeichnet werden – „so viel wie notwendig und so wenig wie möglich“.
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Die Wundränder werden mit schnell resorbierbaren Fäden versorgt, bevorzugt intrakutan fortlaufend oder, falls notwendig, mit Einzelknopfnähten.
Im Vorfeld jeder Operation sollte mit der Patientin besprochen werden, ob sie eine Fotodokumentation des Situs prä- und postoperativ wünscht und ob intraoperative Untersuchungen wie die Abnahme eines PAP-Abstrichs oder die Durchführung eines transvaginalen Ultraschalls indiziert sind. Diese Untersuchungen können, wenn vereinbart, in Anästhesie schmerzfrei durchgeführt werden.
Postoperativ sollte, in Abhängigkeit von Wundfläche und Wundheilung für ca. 4 Wochen kein Geschlechtsverkehr stattfinden, da eine Verletzung der Wundränder zu erneuten Verklebungen und Vernarbungen führen kann. In diesem Zeitraum können anästhetische (z.B. Lidocain Gel 2%) und östrogenhaltige Salben (z.B. Estriol Vaginal Creme) zur Schmerzstillung sowie Förderung der Wundheilung lokal aufgetragen werden. Falls möglich, sollte auch der potenzielle Partner der Patientin miteinbezogen werden, um auch diesem die Notwendigkeit der postoperativen Maßnahmen nahezubringen.