"Ich möchte Wien zu einem Zentrum des Ausgleichs machen." - Interview mit Bürgermeister Michael Ludwig
MEIN WIEN: Herr Bürgermeister, wir sprechen heute in einem Wiener Traditionslokal direkt an der Alten Donau in Floridsdorf. Sind Sie im 21. Bezirk aufgewachsen?
Bürgermeister Michael Ludwig: Ich habe meine ersten Lebensjahre im 7. Bezirk verbracht. Meine Mutter hat dort in einer Fabrik gearbeitet. Diese Firma hat damals wie heute Verschlüsse für Siphonkapseln von Sodawasserflaschen hergestellt. Heute ist die Firma außerdem eine der Weltanbieterinnen für Airbag-Verschlüsse. Daran sieht man, wie sich der Wirtschaftsstandort Wien verändert hat, aber auch wie sich die Stadt verändert. Der 7. Bezirk ist heute ein schöner Wohnbezirk. Solche Kleinfabriken, die auch viel Schwerverkehr verursachen, gibt es im innerstädtischen Bereich so gut wie nicht mehr. Als Jugendlicher bin ich dann nach Floridsdorf gezogen. Dort hat es damals "viel Gegend" gegeben, wie wir gerne gesagt haben. Heute ist der 21. ein sehr attraktiver Bezirk, in dem die Verbindung von Wohnen, Arbeiten, Grün- und Freizeiträumen sehr gut gewährleistet ist.
MEIN WIEN: Aus sehr einfachen Verhältnissen kommend, sind Sie nun Wiens neuer Bürgermeister. Hätte Ihnen das in Ihrer Jugend jemand gesagt, was hätten Sie geantwortet?
Ludwig: Ich hätte mir das nie vorstellen können. Ich war immer ein politisch sehr interessierter Mensch, habe aber keine hauptberufliche Tätigkeit in der Politik angestrebt. Mitte der 1990er-Jahre veranstaltete ich eine Podiumsdiskussion mit den 3 Bürgermeistern Leopold Gratz, Helmut Zilk und Michael Häupl. Ich glaube, es war die einzige Veranstaltung, die je so stattgefunden hat. Diese 3 so unterschiedlichen Persönlichkeiten haben einen Bogen gespannt von der Kommunalpolitik bis zu internationaler Entwicklungszusammenarbeit. Das war wirklich sehr beeindruckend. Ich habe mir damals nicht vorstellen können, dass ich selbst als Vierter in dieser Reihe einmal als Wiener Bürgermeister tätig sein werde.
MEIN WIEN: Was war vor Ihrer Bürgermeister-Wahl die bislang prägendste Erfahrung in Ihrer politischen Laufbahn?
Ludwig: Das war wahrscheinlich, als Michael Häupl mich 2007 gefragt hat, ob ich als Wohnbaustadtrat tätig sein möchte. Genauer gesagt, er hat mich gar nicht gefragt. Er sagte damals: "Du machst den Wohnbaustadtrat." Das war für mich etwas überraschend, da ich bis dahin eher im Bildungs- und Kulturbereich tätig war. Ein Hinweis der damaligen Vizebürgermeisterin Grete Laska war eine große Hilfe für mich: Sie meinte, gerade in der Politik sei es manchmal gut, wenn man eine andere Sichtweise einbringe. Sie hatte nachträglich betrachtet völlig recht. Es ist gut, wenn man eine Grundvoraussetzung für eine solche Position hat, aber es ist mindestens genauso wichtig, manchmal die Perspektive zu wechseln, um einen neuen Blick auf eine politische Herausforderung zu bekommen.
MEIN WIEN: Wissen Sie, warum gerade Sie damals gefragt beziehungsweise aufgefordert wurden, Wohnbaustadtrat zu werden?
Ludwig: Ich glaube, Häupl wollte damals einen neuen zusätzlichen Blickwinkel in die Wohnbaupolitik einfließen lassen. Ich sage immer, wir stehen auf den Schultern unserer Vorgänger und wir sind zu Recht stolz auf unsere Stadt und auf die Leistungen, die unsere Vorgänger erbracht haben. Aber es werden neue Herausforderungen auf uns zukommen und es wird notwendig sein, sehr flexibel auf diese zu reagieren.
MEIN WIEN: Sie haben angekündigt, dass Sie ein weltoffenes und internationales Wien wollen, legen aber auch einen starken Fokus auf die Bezirke und Grätzl. Wie soll dieser Spagat gelingen?
Ludwig: Mir ist wichtig, zwischen diesen beiden Polen zu agieren. Zum einen Wien als die weltoffene, internationale Stadt zu positionieren, die sie ist - als 3. UNO-Sitz weltweit und als einziger in der EU. Aber zum anderen habe ich nach meinem Selbstverständnis auch eine besondere Schutzfunktion für die Wiener Bevölkerung auszuüben. Ich möchte nicht, dass die hier lebende Bevölkerung sich ständig mit neuer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und auf dem Wohnungsmarkt auseinandersetzen muss. Das war der Grund, warum ich den Wien-Bonus bei der Vergabe von geförderten Wohnungen eingeführt habe: Um niemanden auszuschließen, der zu uns in die Stadt kommt, aber jene zu bevorzugen, die entweder hier geboren sind oder schon vor längerer Zeit zugewandert sind.
MEIN WIEN: Sie wollen den Wien-Bonus auch auf andere Bereiche ausdehnen. Welche schweben Ihnen da vor?
Ludwig: Ich habe die Mitglieder der Stadtregierung aufgefordert, in ihren Bereichen zu überprüfen, wo das möglich ist. Ich persönlich kann mir da sehr viel vorstellen, vor allem im Arbeitsmarktbereich und auch in der Wirtschaft. Ausschließen kann ich alle Bereiche, die mit Kindern oder mit Gesundheit zu tun haben. Dort sind solche Reihungen nach anderen Kriterien zu treffen. Wir werden ein sehr dichtes Angebot machen, mit dem wir den Wien-Bonus für die Bevölkerung realisieren können.
MEIN WIEN: Was zeichnet aus Ihrer Sicht Wien gegenüber anderen internationalen Metropolen besonders aus?
Ludwig: Das ist sicher das starke Miteinander. Ich möchte, dass wir in Zukunft dieses Miteinander nicht nur halten, sondern weiter ausbauen. Ich bin im Unterschied zur aktuellen Bundesregierung der Meinung, dass die Sozialpartnerschaft eine starke Zukunft hat. Ich habe mir vorgenommen, regelmäßig Sozialpartnergipfel im Wiener Rathaus durchzuführen. Das Miteinander von Gewerkschaften, Arbeiterkammer, aber auch der Wiener Wirtschaft ist mir ein ganz zentrales und wichtiges Anliegen.
Beim Miteinander geht es aber auch darum, zwischen den vielen individuellen Lebensentwürfen der Menschen für eine entsprechende Balance zu sorgen. Auf der einen Seite gilt es, die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten zu gewährleisten. Diese Entwicklung zur immer stärker werdenden Individualisierung und Fragmentierung ist weltweit in Städten erkennbar. Auf der anderen Seite müssen wir aber das große Ganze und die Gemeinschaft im Blick behalten. Das ist eine zentrale Herausforderung an die Politik, in diesem Spannungsfeld keine Probleme entstehen zu lassen.
MEIN WIEN: Welche Akzente wollen Sie setzen, um für ein gutes Zusammenleben von der Wiener Bevölkerung und Zugewanderten zu sorgen?
Ludwig: Ich finde es wichtig, dass das Motto Integration vor Zuwanderung gelebt wird. Dass wir nach einer sehr starken Phase des Bevölkerungswachstums alles daransetzen, um hier stabilisierend zu wirken. Da haben wir als Stadt allerdings nur eingeschränkte Möglichkeiten. Der Wien-Bonus ist beispielsweise so eine Möglichkeit, um sich besonders um die hier lebende Bevölkerung zu kümmern.
Ein ganz entscheidender Schritt in der Integration ist vor allem der Spracherwerb - im Schulbereich Deutsch zu vermitteln -, aber auch beim lebensbegleitenden Lernen. Dazu gehört auch, dass unsere demokratischen Werte vermittelt werden. Genauso, dass Männer und Frauen gleich behandelt werden. Es darf nicht sein, dass man die Autorität von Frauen in einzelnen Berufen in Zweifel zieht. Wir haben in diesem Bereich bereits viel geschafft, es gibt aber noch viel zu tun. Ich bemühe mich, in allen Bereichen verbindend zu wirken. Das gilt für die politischen Fraktionen genauso wie für die verschiedenen Religionsgemeinschaften. Daher strebe ich schon seit längerer Zeit einen Campus der Religionen in Wien an. Nicht alle Menschen bekennen sich zu einer Religion, aber doch sehr viele. Während in anderen Regionen der Welt die Religion vorgeschoben wird, um Konflikte oder sogar Kriege zu führen, möchte ich beweisen, dass es nicht so sein muss, und Wien zu einem Zentrum des Ausgleichs machen. Ein solcher Campus der Religionen könnte in der Seestadt Aspern realisiert werden. Und ich freue mich sehr, dass alle anerkannten Religionsgemeinschaften mit mir gemeinsam an einem Strang ziehen.
MEIN WIEN: Die Wirtschaftskrise hat Wiens Schuldenstand in die Höhe getrieben. Wie wollen Sie dem entgegenwirken?
Ludwig: Wichtig ist, dass wir uns in der damals wirtschaftlich schwierigen Phase ganz bewusst dazu entschlossen haben, über gezielte Investitionen bleibende Werte zu schaffen und somit auch für die Baubranche oder den Arbeitsmarkt belebende Impulse zu setzen. Investitionen in den Bildungsbereich, in den Wohnbau oder in den Gesundheits- und Sozialbereich sind bleibende Werte, die für die Wiener Bevölkerung einen nachhaltigen Nutzen haben. Aber Sie haben Recht: Wir müssen schauen, das Stadtbudget wieder besser auszugleichen. Das heißt auf der einen Seite schon weiterhin Impulse für die Wirtschaft zu setzen, um Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen, aber auf der anderen Seite den Schuldenstand durch gezielte Reformschritte wieder zu verringern.
MEIN WIEN: Sie pflegen einen engen Austausch mit dem Wiener Wirtschaftskammer-Präsidenten Walter Ruck. Welche gemeinsamen Projekte streben Sie an?
Ludwig: Walter Ruck und ich haben miteinander in früheren Funktionen schon viele Projekte umgesetzt. Jetzt begegnen wir uns als Präsident und Bürgermeister wieder und können da natürlich auf unserer guten Beziehung aufbauen. Für einige wichtige Projekte, die den Wirtschaftsstandort Wien voranbringen, wurden kürzlich bedeutende Entscheidungen getroffen: etwa die 3. Piste für den Flughafen Wien oder den Lobautunnel. Letzterer ist besonders wichtig für die Fertigstellung der Nord-Ost-Umfahrung. Diese wird einerseits die Donaustadt entlasten, andererseits sollen damit auch Firmen und Wohnbauten besser angebunden werden. Sie müssen sich das einmal vorstellen. Keine 3 Kilometer vom Stephansdom entfernt, rollt über die A23 der Schwerverkehr durch Wien, weil Wien als einzige Großstadt keinen Umfahrungsring hat. Das ist schon mehr als bemerkenswert. Mit dem Lobautunnel allein ist es aber nicht getan, daher werden wir gemeinsam mit dem Koalitionspartner auch eine Reihe an Begleitmaßnahmen präsentieren.
MEIN WIEN: Auto, Öffis, Rad oder zu Fuß? Wie sind Sie am liebsten in Wien unterwegs?
Ludwig: Das ist ganz verschieden und situationsabhängig. Ich bin sehr gerne zu Fuß unterwegs, insbesondere in meinem schönen Heimatbezirk Floridsdorf. Als Jahreskartenbesitzer fahre ich natürlich auch gerne mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder, wenn es erforderlich ist, benutze ich das Auto. Unser Ziel ist, dass wir bis zum Jahr 2030 den Anteil an nachhaltig ökologischen Verkehrsmitteln in der Stadt auf 80 Prozent angehoben haben. Zugleich halte ich aber nichts davon, einzelne Verkehrsteilnehmer*innen zu schikanieren und zu etwas zu zwingen. Manche Wiener*innen müssen oder wollen ihr Auto auch in Zukunft verwenden. Den Umstieg auf die umweltfreundlichen Verkehrsmittel möchte ich durch Anreize schaffen.
MEIN WIEN: Spielt E-Mobilität dabei auch eine Rolle?
Ludwig: Ja, das wird mittlerweile bei städtischen Initiativen gleich mitgedacht. Sehen Sie sich beispielsweise das Projekt "Smarter Together" in Simmering an. Ein ganzer Bezirksteil wird durch ein umfassendes Maßnahmenpaket - Wohnhaussanierung, E-Mobilität, Modernisierung von Schulgebäuden - attraktiver. Und das mit finanziellen Mitteln der Europäischen Union.
MEIN WIEN: Nachdem es keinen eigenen Sicherheitsstadtrat gibt, ist das Thema Sicherheit Chefsache?
Ludwig: Sicherheit ist in erster Linie weder ein linkes oder rechtes Thema, es ist ein Menschenrecht. Ich sehe mich für den Schutz der Wiener*innen verantwortlich. Und um das zu gewährleisten, setze ich mich vehement dafür ein, eine Hausordnung für die ganze Stadt einzufordern. Überall, wo Menschen zusammenleben, sollte es immer Spielregeln geben, an denen sich alle orientieren können und an die sich alle halten. Es ist wichtig, dass wir das Prinzip Ordnung in allen Bereichen der Stadt durchsetzen.
MEIN WIEN: Was würden Sie sich wünschen, dass die Wiener*innen nach ihrem ersten Jahr als Bürgermeister über Sie sagen?
Ludwig: In einem Jahr wäre es schön, wenn die Wiener*innen der Meinung sind, dass der eingeschlagene Weg richtig ist, und sie sich vorstellen können, ein Stück dieses Weges mit mir zu gehen. Und das sage ich nicht, weil mich Bruno Kreisky so beeindruckt hat, sondern weil es eine schöne Metapher dafür ist, worüber wir heute auch gesprochen haben.
MEIN WIEN: Wie schaffen Sie persönlich eigentlich den Ausgleich zum stressigen Polit-Alltag?
Ludwig: Hilfreich dabei ist sicherlich das starke Band, die hohe Stabilität der Beziehung zu meiner wundervollen Partnerin, und wir versuchen auch, die gemeinsame Zeit sehr bewusst zu nutzen. Darüber hinaus bin ich zumindest einmal in der Woche am Marchfeldkanal laufen. Der wurde seinerzeit übrigens gegen großen Widerstand errichtet. Heute ist er als Naherholungszone nicht mehr aus Floridsdorf wegzudenken. Ich nutze außerdem das vielfältige Kulturangebot unserer Stadt, dessen Fülle und Variantenreichtum weltweit einzigartig ist. Ich freue mich etwa schon auf das Programm der Wiener Festwochen und das internationale Tanzfestival Impulstanz. Und ich lese sehr gerne. Bücher sind seit früher Kindheit meine ständigen Begleiter.
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