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Katharina Mittlböck "Die Puppe mit dem gelben Seidenkleid "- Leseprobe

Gewinner*innen-Text Literaturstipendium Alsergrund 2025

Die Puppe mit dem gelben Seidenkleid

Martha 1944

Gitterstäbe zerteilen den Schrei in Streifen, alle gleich breit, gleich lang. Würde man sie aufstapeln akkurat im rechten Winkel zu Quadraten mit leicht überstehenden Enden, es wäre ein stabil gebautes Streifengebäude. Es braucht ein System, eine Ordnung, um zu verstehen. Und wenn wir sie der Sache vorerst abtrotzen müssen, hernach wird sie als gewachsen, als organisch innewohnend erkannt werden. Martha hat wieder die Puppe mit den weißen Löckchen mit. Meistens kommt sie in Begleitung der Puppe. Der Weg von der Straßenbahn herauf zum Pavillon 20 ist steil. Marthas Haare kleben in ihrem Nacken. Die Puppe liegt obenauf im Korb, darunter das Menage-Reindl mit den Fleischlaberln, ein zweites mit Kohl, eingebrannt mit Knoblauch. Sie hat die Reindln eingeschlagen in ihr schwarzes, wollenes Schultertuch, das mit den Fransen. Sie sollen warm bleiben, aber dafür ist der Weg vom Alsergrund bis auf den Steinhof zu weit. Martha stellt sich einen Sessel ans Bett. Traute, Kabernadln, schau, ich hab dir Kabernadln gebracht ... Auf der anderen Seite des Gitters wieder dieser Schrei, Judensau! Die Streifen fallen in Marthas breiten Schoss. Obendrauf setzt sie die Puppe, schaut durch das gegenüberliegende Fenster auf das Grün draußen zwischen den Pavillons und dreht mit dem Zeigefinger ihre feuchten Locken. Später wird sie ihrer älteren Tochter, der vom anderen Vater, erzählen, dass es immer so war, wenn sie Traute besuchte. Eine Lieblingsspeise im Menage-Reindl, was eben möglich war und dann warten, bis die Besuchszeit um war. Und die Schreie.
Sie verstaut Reindln und Puppe wieder im Korb. Zurück in der Pramergasse setzt sie die Puppe wieder auf ihren Platz am Flügel. Martha isst die kalten Reindln leer, in der Küche, mit Blick aus dem Fenster auf den Lindenbaum, in der Rechten die Gabel, mit dem linken Zeigefinger dreht sie die Löckchen in ihrem Nacken.
Wie die Gitterstäbe die Schreie in Streifen schneiden, so tun es die Besuche bei ihrer Tochter am Steinhof mit dem, was von der Welt draußen zu ihr hereindringt in die Pramergasse, durch die Zweige des Lindenbaumes, durch das Küchenfenster in ihre Wohnung. Ein Brief kommt von ihrer Schwester Louise. Sie werde sich auf den Weg in Richtung Osten begeben müssen. Sie habe sich ihren Wintermantel in ein praktisches Reisekleid umnähen lassen bei jener Karlsbader Schneiderin, die sich darauf versteht, die von ihr nach Maß angefertigten Mäntel, Kostüme und Kleider jetzt zweckmäßig umzuarbeiten.
Sie richtet der Puppe die Haare. Immer nach den Ausflügen auf den Steinhof war sie ganz derangiert. Zuletzt war eine von den bunten Filzblumen, die den Ausschnitt des gelben Seidenkleidchens säumen, abgerissen. Sie war am Korb hängen geblieben. Zum Glück bemerkte sie es sofort und konnte sie in ihr Portemonnaie stecken. Zu Hause nähte sie sie wieder an, sie nähte auch alle anderen Blümchen am Saum nach, man konnte ja nicht wissen.

Veronika 2025

In jeder Familie gibt es diese eine Person, die die Erinnerungen bewahrt. In deiner Familie bist du es. Vielleicht nicht, weil du es gewählt hast. Es ist nur einfach keine mehr da, die es sonst machen könnte.

Du wohnst in einem Prinzessinnenschloss. So nennt deine Tochter euer Zuhause. Mit Türmchen und Säulen, Kapitälchen und kleinen Balkonen. Bestimmt das schönste Haus am Alsergrund. Nur einmal war es nicht schön. Da brannte ein Loch unten raus. Damals musstest du deiner Tochter immer wieder und wieder erklären, was einer passiert war in eurem Prinzessinnenschloss.
Ihr lebt hier mit der Puppe. Und mit Louises Porzellanelefanten und mit Briefen und Dokumenten. Mit zwei gelben Davidsternen aus Stoff, an denen noch die Fäden hängen, mit denen sie an den kleinen Mantel deiner Mutter und den großen deiner Großmutter genäht waren.
Unten drin, wo das Loch rausgebrannt ist, ist jetzt auch Erinnerungskultur, gleich neben den quadratischen Messingtäfelchen im Gehsteig.

  • Stellvertretend für die Vielen. Leopoldine Fischer, Marie Fischer, Friedrich Gehorsam, Regina Gehorsam. Zum Gedenken an 53 jüdische Frauen und Männer, die in diesem Haus beengt in Sammelwohnungen gelebt haben, ehe sie von den Nazis deportiert und ermordet wurden.

Ob wohl im Gehsteig vor dem Haus in der Blanická in Praha Vinohrady ein Messingtäfelchen mit Louises Namen liegt? Du solltest wieder mal nach Prag fahren. Irgendwann wurde Louise von Karlsbad in die Sammelwohnung dort gebracht. Ihr Elefant blieb wohl in der Villa Waltersheim in Karlsbad. Wie er von Karlsbad nach Wien kam, weiß wohl nicht mal die Puppe. Er ist nach wie vor unversehrt. Seine zarten weißen Porzellanstoßzähne sind nicht abgebrochen und auch sein Porzellankörper hat keinen Sprung. Bevor er zu dir ins Prinzessinnenschloss zog, hatte er bei deiner Mutter gewohnt. Zu ihrem Sterben hin schwankte seine Bedeutung, je nach Tagesverfassung. Der ist von der Tante Louise, Meingott, sie hat gewusst, dass sie wegkommt, hat einen kleinen Koffer gepackt, und sich den Mantel aus dem Stoff vom Knize in ein Reisekleid umnähen lassen, praktisch und doch elegant, für die Reise. Theresienstadt, Lublin. Ins Gas.
Oder deine Mutter wusste nichts von einem Elefanten. Wenn du ihn ihr zeigtest, meinte sie: Sehr hübsch, naja, eigentlich nicht so unser Geschmack. Und kicherte.

Traute 1944/46

Meine Mutter Martha sitzt wieder in der Küche und dreht ihre klebrige Locke im Nacken. Vor dem Fenster der Lindenbaum, durch den sie in ihre Pramergassenwelt hinausschaut. Ihr weitester Weg ist bis zum Bauernfeldplatz. Dort an der Ecke das Geflügelgeschäft und drüben das Gemüse. In der Porzellangasse der Fleischhauer, und wieder nach Hause hinter den Lindenbaum.
Ich esse nicht, was sie kocht. Als Kind hatte ich mir vorgestellt, sie wäre nicht meine Mutter. Meine Tante Louise wäre meine Mutter und diese Frau hätte mich ihr geraubt und behauptete nun sie wäre meine Mutter. Dabei war sie doch nur die Tante. Ihr klebriger Nacken riecht schlecht. Es wird immer schwieriger mit ihr. Sie versperrt meinen Kleiderkasten, lässt mich nicht weggehen. Sie schleppt mich von Arzt zu Arzt. Schließlich sogar Spital.

  • Traute Erber, Studentin, geb. am 23.2.1919 in Wien, ledig, wohnhaft Wien 9., Pramergasse 7, Temp. 36,2, Gewicht 58 kg, Größe 1,70.
    Bei der Aufnahme: ruhig, geordnet, willig. Auf die Frage, warum sie hier sei: "Wegen einer Familienintrigue".
    Sie lebe bei einer Ziehmutter. Ihre Mutter sei tot.

Mein Vater war echt. Akkurat geschnittenes Haar, im Nacken ausrasiert, manchmal Biergeruch, wenn er spät von der Bude heimkam. Gymnasiallehrer Latein und Griechisch. Aber jetzt tot.
Die Puppe wohnt auch bei uns. Meine Puppe mit den Glasaugen und dem Stoffgesicht. Die Puppe, stellte ich mir immer vor, war Zeugin des Kindsraubes. Hinter den Glasaugen, denke ich, ist bestimmt alles, was vorher davor war, vielleicht in einer Hinterglas-Höhle mit Gängen und vielen Kammern. In jeder Höhlenkammer wohnt ein Geheimnis, sozusagen Geheimniseinzelzimmer. So waren sie geordnet und konnten nicht durcheinandergeraten. Ich dachte immer, es wäre gut, wenn sie sich nicht untereinander absprechen könnten. Geheimniskonspiration scheint mir gefährlich. Das Puppengesicht rund um die Höhleneingänge hat eine fleischfarbene Stoffwuzerlkrankheit. Ich schaue nicht hinein in die Höhle, nie, auch heute nicht. Wenn ich meine Rollen probiere, sitzt sie am Flügel und schaut zu. Wenn Julia schreiend stöhnend tränenüberströmt vor ihrem toten Romeo niedersinkt, sieht es die Puppe. Wir finden es besser, wenn er zuerst stirbt. Sobald auch Julia tot ist, drehe ich die Puppe um, die Höhleneingänge zur Wand.
Die Mutter mag das nicht. "Du arme, hats dich schon wieder umgedreht, musst ins Winkerl schauen? Na komm her da, siehst ja gar nix, brauchst dich nicht fürchten, die Julia is nicht wirklich tot, nein die Traute auch nicht. Weißt, die spielt das nur."
Sobald sie wieder mit der Lockenspirale um den Finger in den Lindenbaum starrt, lasse ich die Puppe wieder wegschauen. Den Wohnungsschlüssel habe ich jetzt an mich genommen, rechtzeitig. Ich trinke auch nichts mehr, was mir die Mutter gibt.

  • Patientin hat den Eindruck, dass man ihr zu Hause starke Getränke verabreiche, ohne dass sie davon gewusst habe. "Ich bin zu wenig Chemikerin und habe nicht die Möglichkeit, in einem Laboratorium Analysen zu machen", sie wisse nicht genau, ob es Opium ist, sie könnte es ja nicht prüfen. In ihrem Rauschzustand sehe sie besonders Szenen aus Theaterstücken, die sie am Tage zuvor oder einige Zeit davor gelernt hat, die sich besonders lebhaft vor ihrem inneren Auge abspielen.

Die Mutter besucht mich regelmäßig, bringt meist die Puppe mit. Sitzt am Bett, die Puppe am Schoß. Die soll ruhig alles sehen. Ich habe einen Hund gebastelt aus Pappe. Sie haben mich in einem Gitterbett eingesperrt. Ich habe mich nass gemacht, konnte ja nicht aufs Klosett. Unmögliche Behandlung, die mir zuteilwird. Habe mich entblößt, dem Doktor entgegengeschrien: Du bist auch nackt! Hat dich der liebe Gott auch so gemacht, du bist ein schiacher Dackel. Da war was los.

  • 26.10. 1945 Blutsenkung 4 mm, bettflüchtig, unfügsam, schlug eine Pflegerin, von Pavillon 20 auf Pavillon 14 versetzt.
    28.10. Gitterbett, unruhig, knüpft das Netz auf, zerreißt Wäsche, Schutzjacke, isst nicht, lässt sich nicht ausspeisen.
    30.10. 1. Elektroschock
    2.11. 2. Elektroschock
    3.11. Mit Schutzjacke im Gitterbett. - Durchfall.

Ich möchte ausführen zum Wohle der Menschen, was mir Gott eingibt. Will allein auf den Füssen stehen, ich will selbständig sein, künstlerisch, aber nicht verrückt und nervenkrank, sondern so, dass ich in die allgemeine Menschheit hineinpasse. Möchte auf die Schauspielschule gehen - Medizin dürfte mir zu schwer sein - da müsste man unter Fachleuten sein.

  • 4.11. Versuchsweise ohne Schutzjacke im Gitterbett.
    6.11. Durchfall geheilt.
    9.11. 3. Elektroschock
    12.11. 4. Elektroschock, plötzlich erregt, schlug 2 Fenster ein, Bettruhe.
    13.11. 5. Elektroschock

Habe Angst vor der Elektroschockbehandlung. Jedes physikalische und chemische Mittel in der Welt kann, wenn es medizinisch angewendet wird, nur in kleinen Mengen verwendet werden und wenn man zu viel bekommt, schädlich wirken. Mir wird besser sein, wenn ich aus der Klinik wieder weg bin, zu ganz einfachen Leuten aufs Land vielleicht. Feldarbeit. Tirol.

  • 24.1.1946 Patientin ist sehr ungeordnet, reißt den Verband herunter, wühlt das Bett auf, liegt auf der Decke. - Bekommt Lebertransalbe
    29.1. Schmiert sich den Stuhl auf die Abszesse und auf den Decubitus, sagt es sei dies das beste Heilmittel, - Da sie noch immer starken Durchfall hat, bekommt sie Schonkost.
    6.2. Redoxon u. Benerva 1 Amp., Kamillentee mit Cognak, Patientin ist sehr ungeordnet, lässt keinen Verband.
    7.2. Patientin ist zeitweise sehr erregt. Hat heute ein Thermometer zerbrochen.
    8.2. Die Pusteln wurden mit der Pinzette aufgemacht u. mit Alkohol betupft u. dann 5% Sulfadiazinsalbe draufgelegt.
    10.2. Ungeordnet, unrein, unappetitlich, greift mit den Fingern in die Wunden hinein

Ich packe meinen Stuhl in Papier ein und werfe ihn herum, damit jeder eine Kostprobe davon hat. Sie schimpfen.

  • 4.3. Bronchitis - Hustenmedizin. - Temp. 37,4. Hat nur flüssige Nahrung zu sich genommen, da sie schlecht schlucken kann. Im Hals ist nichts Pathologisches zu sehen.
    5.3. Patientin hat Schluckbeschwerden u. Atemnot. Spricht fast nichts. Hie u. da bringt sie ein Wort mühsam heraus. Verweigert jegliche Nahrung, da sie nichts herunterbringt. - Nach Angabe der Pflegerin bekommt sie seit gestern ungefähr alle 2-3 Stunden Anfälle. Sie schlägt um sich mit Händen u. Füßen.
  • Sektionsprotokoll: Name: Traute Erber Alter: 26 Jahre
    Beschäftigung: ohne Erwerb Zeit des Todes: 5.3.1946, 16:50
    Diagnose: Schizophrenie, Decubitus, Furunkulose, Bronchitis, Halsmuskellähmung
    Obduzent: Dr. Glatz

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